Man gibt ihnen keine Namen – den Kindern, die nur noch sterben wollten. Hierzulande hätte man den 17-Jährigen vielleicht Paul oder Moritz genannt und hinzugefügt, dass sein richtiger Name der Redaktion bekannt sei. Belgische Medien aber verzichten darauf, das Schicksal dieser toten Kinder und ihrer Familien aus der Anonymität zu holen. Bekannt ist nur, dass es drei waren, die in den letzten fünf Jahren um den Tod baten – seit Belgien aktive Sterbehilfe auch für Minderjährige zugelassen hat.
„Euthanasie“ nennen die Belgier das bewusste und aktive Eingreifen eines Arztes, der etwa durch die Abgabe von Medikamenten das Leben des Patienten beendet. Dieser Begriff fällt im Nachbarland ohne Scham und unvorbelastet von der Geschichte, die den Deutschen diese Bezeichnung verbieten würde.
Im Bericht der belgischen Sterbehilfe-Kommission tauchen diese drei Kinder als nüchterne Zahl in einer Tabelle auf. Zwei Patienten im Jahr 2016, die mithilfe eines Arztes aus dem Leben geschieden sind, einer im Jahr 2017. Ein Kind war neun Jahre alt, ein zweites elf, das dritte starb mit 17.
In einem Fall war es Hirntumor, im anderen Mukoviszidose
Die Diagnosen lassen das Leiden dahinter nur erahnen: Der Neunjährige litt an bösartigen Tumoren im Kopf, der Elfjährige an der Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose. Der dritte Patient hatte die Duchenne-Muskeldystrophie, eine extreme Art von Muskelschwund. Jedes Schicksal sei von der zuständigen Ethik-Kommission „sorgfältig und mit viel Mitgefühl“ geprüft worden, sagt die Anwältin Jacqueline Herremans, die der Sterbehilfe-Kommission angehört.
Vor fünf Jahren führte Belgien das liberalste Sterbehilfe-Gesetz der Welt ein. Im Vorfeld wurde erbittert gestritten. Noch während der Abstimmung im Parlament am 13. Februar 2014 rief ein Zuschauer „Mörder“ in den Saal. Nicht einmal ein Mindestalter wollte die damalige sozialdemokratisch geführte Regierung zur Bedingung machen. Anders als in den Niederlanden, wo eine Altersgrenze für die aktive Sterbehilfe von zwölf Jahren gilt, oder in Luxemburg, wo nur Volljährige ihren Tod beantragen können, hat Belgien auf eine solche Beschränkung verzichtet. Und sich eine Diskussion eingehandelt, die bis heute dauert: Kann ein Kind bewusst und frei den Tod wählen? Kann es die Dimension dieser Entscheidung begreifen? Anwältin Jacqueline Herremans räumt ein, dafür sei nicht jedes Kind reif genug. Aber: „Wir sprechen über Kinder, die Wochen oder Monate im Krankenhaus verbringen. Sie sind reifer als andere.“
„Mörder“ rief damals einer, als das neue Gesetz verabschiedet wurde
Die Anwältin ist überzeugt, dass die belgische Sterbehilfe-Regelung sinnvoll ist. „Das Wichtigste ist, dass das Kind die Entscheidung trifft.“ Die gesetzlichen Vorgaben jedenfalls sind strikt: Der junge Patient muss sich in einer „medizinischen Situation ohne Ausweg befinden, die kurzfristig zum Tode“ führt – also unheilbar krank sein. Mehrere Ärzte müssen ein „ständiges und unerträgliches“ Leiden bescheinigen, das sich auch durch Medikamente nicht lindern lässt. Ein Psychologe muss bezeugen, dass das Kind urteilsfähig ist und in der Lage, sich aus freien Stücken fürs Sterben zu entscheiden. Zudem ist die Zustimmung der Eltern nötig. Es gehe, so schrieben die Autoren des Gesetzestextes 2014 in das Regelwerk, „nicht darum, einen Jugendlichen zu töten, sondern ihn von seinem Leiden zu befreien“.
Doch die Zweifel bleiben. Mehr noch, sie werden gerade jetzt wieder wach. Nicht nur, was die aktive Sterbehilfe an Kindern betrifft, sondern generell. In Belgien dürfen Erwachsene seit 2002 um ihren Tod bitten. Seither sind in dem Land 17.000 Menschen freiwillig aus dem Leben geschieden. Diese Formulierung könnte auch für einen Suizid gelten – und genau das ist das Problem: Euthanasie als Selbstmord-Variante.
„Psychiatrische Patienten müssen begleitet, betreut, geliebt, umgeben, geschützt werden, manchmal auch vor sich selbst“, sagt Carine Brochier vom Europäischen Institut für Bioethik in Brüssel. „Besorgniserregend“ nennt sie die Situation, dass das belgische Gesetz zwar verlangt, den eigenen Tod fähig und bewusst zu beantragen und daher in der Lage zu sein, die Bitte freiwillig, nachdenklich und mehrfach wiederholt vorzubringen – und natürlich ohne äußeren Druck. Für Brochier ein Widerspruch in sich, wenn es um psychische Krankheiten geht. Denn wie kann jemand, der in seinem Leiden verstrickt ist, alle die Voraussetzungen für einen durchdachten Beschluss erfüllen?
Dürfen psychisch Kranke um ihren Tod bitten?
Die Expertin verweist auf den Fall der 24-jährigen Patientin, die unter dem (falschen) Namen Laura über Belgiens Grenzen hinaus bekannt wurde, weil sie 2015 nach einer schweren psychischen Erkrankung sterben wollte. Sie hatte das Fernsehen eingeladen, an der letzten Wegstrecke ihres Lebens teilzunehmen. Alle sollten miterleben, wie sie ihren Tod plante. Einen Tag vor ihrem Lebensende stoppte sie alles. Brochier sagt: „Psychologen und Therapeuten wiederholen immer wieder, dass der Wunsch nach dem Tod eines der Symptome der psychiatrischen Pathologie“ sei.
Und dann sind da noch die Ärzte, die den Patienten begleiten und die den Tod erst ermöglichen. Brochier erzählt von den Berichten betroffener Medizinern, die im Europäischen Institut für Bioethik eingehen. „Ein Arzt hat uns kürzlich gesagt, dass er nur freitags Sterbehilfe leistet, weil er ein ganzes Wochenende braucht, um sich zu erholen.“ Muss man sich, so die Fachfrau weiter, also wirklich „der Wahl des Todes beugen“?
Die öffentliche Diskussion über alle diese Vorgänge ist in Belgien vor allem durch Tom Mortier in Gang gekommen. Seine Mutter Godelieve de Troyer litt fast 20 Jahren an schweren Depressionen. 2012 suchte sie mehrere Ärzte auf, ehe sie einen fand, der ihren Antrag auf aktive Sterbehilfe annahm. Der Mediziner hat Tom Mortier nichts gesagt. Erst am Tag nach ihrem Tod sei er darüber informiert worden.
Wie kann man sicher sein, dass wirklich alles versucht wurde, um das Leiden zu lindern?
Ende 2018 klagte Mortier vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg – und zum ersten Mal in seiner Geschichte nahm der Hof eine solche Klage an. Der Vorwurf: Artikel 2 der Menschenrechtscharta schreibt das „Recht auf Leben“ fest. Dieses sei im vorliegenden Fall „schwer verletzt“ worden, denn wenn jeder ein Recht auf Leben hat, müsse dieses Recht durch das Gesetz geschützt werden. Mortier will von den Richtern die grundsätzliche Frage beantwortet wissen: Wie können wir die Tatsache messen, dass Leiden unerträglich ist? Und wie kann man sicher sein, dass wirklich alles versucht wurde, um das Leiden zu lindern? Noch bis April hat die belgische Regierung Zeit, eine Stellungnahme abzugeben. Ein Urteil wird für Ende des Jahres erwartet.
Mit seiner Meinung ist Mortier nicht allein. Ariane Bazan, Professorin für klinische Psychologie an der Freien Universität Brüssel, stellt sogar ausdrücklich infrage, dass es „Beweise für die Unheilbarkeit einer psychischen Erkrankung“ geben könnte. Willem Lemmens, Professor für Moderne Philosophie und Ethik an der Uni Antwerpen, sagt: „Die Menschen betrachten Euthanasie als Lösung für Krankheiten wie Krebs im Endstadium oder neurologische Erkrankungen.“ Was aber ist mit Patienten, die Demenz haben? Mit alten Menschen, die nicht im Endstadium einer Krankheit sind, sondern einfach lebensmüde?
Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, kritisiert, dass die belgische Gesellschaft sich an Sterbehilfe gewöhnt habe. Dafür sprechen die Zahlen, die kontinuierlich gestiegen sind. 2004 wurden 349 Fälle aktiver Sterbehilfe registriert, zehn Jahre später waren es bereits mehr als fünf Mal so viele. Auch die Diskussion über die Ausweitung des Gesetzes auf Minderjährige habe die Zahlen steigen lassen, ist Brysch überzeugt. „Das macht schon betroffen.“
Den Kinderarzt, der sich für die Liberalisierung eingesetzt hat, nannten sie „Dr. Tod“
Tatsächlich beginnt das Land mit seinen elf Millionen Einwohnern erst jetzt langsam, über Palliativ-Einrichtungen, wie es sie in Deutschland gibt, zu diskutieren. Dass Menschen sterben wollen, berührt viele. 2309 Mal wurde aktive Sterbehilfe im Jahr 2017 in Belgien durchgeführt. In einem Fall bei einem Minderjährigen.
Gerlant van Berlaer hat sich dafür eingesetzt, dass auch Kinder um ihren Tod bitten können und die Liberalisierung der aktiven Sterbehilfe vorangetrieben. „Ich will nicht Gott spielen. Ich will aber auch nicht das Leiden zum Tode geweihter Kinder, für die es keine Behandlung mehr gibt, gegen ihren Willen verlängern müssen“, hat der Kinderarzt vor Jahren gesagt. Die belgischen Medien nannten ihn danach „Dr. Tod“.
Der Kinderarzt erzählt die Geschichte eines 15-jährigen Jungen, der mit Knochenkrebs zwei Jahre im Krankenhaus verbringen musste – die meiste Zeit mit großen Schmerzen und auf der Isolierstation. Er wünschte sich nur noch eines: eine Abschiedsparty mit seiner Freundin, mit den Freunden und Eltern. Danach wollte er allein mit Vater und Mutter sterben dürfen. Doch das Gesetz war damals dagegen, die Ärzte mussten tun, was sie tun konnten. Als der Tod den 15-Jährigen einige Wochen später erlöste, hatte er seine Freunde nicht mehr wiedergesehen. „Er durfte nicht so sterben, wie er wollte“, sagte sein Arzt damals. „Das kann nicht richtig sein.“
Heute wäre alles anders. Doch ob für die Betroffenen und ihre Angehörigen deswegen auch alles besser wäre, da scheinen sich auch in Belgien die wenigsten sicher zu sein.