Carsten Voss hat der Welt hinter sich den Rücken zugedreht. Die Welt hinter ihm, das ist ein Park: gepflegte Blumenrabatten, das Gras der Wiesen kurz geschnitten. In der Mitte schießt ein Springbrunnen das Wasser laut plätschernd in die Höhe. Jetzt, nachmittags um vier, spazieren Pärchen mit Kinderwagen über die Pflastersteine, Mittzwanziger haben ihre Fahrräder abgestellt und sich zu einer kurzen Pause auf die Wiese gesetzt.
Für Voss ist es nicht irgendein Park: Zuerst war der Victoria-Luise-Platz in Berlin-Schöneberg der Platz in seinem Kiez, in dessen Nähe seine Wohnung lag. Er schlenderte gerne die Wege entlang, ruhte sich auf den Bänken einen Moment aus. Dann wurde der Platz selbst zu seiner Wohnung. „Es ist Quatsch zu glauben, dass Obdachlose immer unter Brücken und an dreckigen U-Bahnhöfen sitzen – auch Obdachlose mögen schöne Orte lieber.“
Von der Zeit auf der Straße zeugt nur noch eine Zahnlücke
Heute trägt Voss Segelschuhe, eine kurze Hose, ein graues Shirt und eine moderne Brille. Er ist 54 Jahre alt, steht mitten im Leben. Dass er vor gar nicht langer Zeit noch an dessen Rand entlangtaumelte, davon zeugt äußerlich nur noch eine breite Zahnlücke im verfärbten Gebiss. Voss wendet sich dem Park wieder zu, deutet auf die rechte Seite, dann auf die linke. „Auf der Sonnenseite sitzen die Wilmersdorfer Witwen und andere Anwohner, auf der Seite im Schatten die Wohnungs- und Obdachlosen.“ Er erzählt es einer Gruppe von gut zwanzig Menschen, die ihn heute auf seiner ganz persönlichen Stadtführung begleitet. Voss zeigt Berlin aus seiner Sicht – aus der Perspektive eines Mannes, der bis vor Kurzem noch auf der Straße lebte.
In Berlin leben bis zu 4000 Obdachlose
In Berlin leben nach Schätzungen 2000 bis 4000 Menschen auf der Straße. Dabei handelt es sich aber um ältere Zahlen – neue gibt es nicht. Beate Flügel von der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales erklärt, dass es schwierig sei, diese Menschen zu erfassen. „Wegen der Zahlen aus den Kältehilfe-Angeboten im Winter gehen wir davon aus, dass es weniger sind.“ Voss hat das Gefühl, dass es eher mehr geworden sind. Dafür spricht auch die Schlange, die sich vor der evangelischen Bahnhofsmission am Zoologischen Garten zur Essensausgabe bildet: 600 Menschen am Tag kommen dorthin.
Berlin ist attraktiv für Obdachlose, das soziale Netz vergleichsweise gut. Und so landen Obdachlose aus allen Ecken Deutschlands und viele Armutseinwanderer aus Osteuropa in der Hauptstadt. Viele wollen nicht in ihrer Heimatstadt bleiben, wo die Menschen sie kennen und sehen, dass sie gescheitert sind.
Voss war arbeitete früher in der Modebranche
Auch Voss hat lange versucht, seinen Abstieg zu verbergen. Sein altes Leben ist Glanz und Glamour: Als Manager in der Modebranche, so erzählt er, reist er rund um die Welt, leitet Marketingkampagnen und organisiert Fotoshootings mit Starmodels. Die meiste Zeit im Jahr ist er unterwegs, bis es nicht mehr geht. Hörstürze, Herzinfarkt, Burnout, schwere Depressionen. Voss kann nicht mehr. Nicht arbeiten, nicht sein Leben regeln. Sein Arbeitsvertrag wird aufgelöst, Voss lebt vom Arbeitslosengeld.
Als es ausläuft, beantragt er kein Hartz IV. Das war ein „No-Go“ in seinen alten Manager-Kreisen. „Ich wollte mir nicht diese Blöße geben.“ Er will keine Hilfe. Nicht von Freunden und Bekannten, nicht von Anlaufstellen. „Ich habe mich geschämt, ich habe es nicht ertragen.“ Voss verkauft, was in seiner Wohnung noch von Wert ist. Irgendwann reicht auch das nicht mehr, um die Miete zu bezahlen. Als er von einem Aufenthalt in der Psychiatrie zurückkommt, passt sein Schlüssel nicht mehr. Sein altes Leben: ausgeräumt und zugesperrt.
Die ersten Monate kam er noch in einer Sommerlaube unter
Ein paar Monate kommt er in der Sommerlaube von Freunden unter, bis sie im Winter abgeschlossen wird. Jetzt ist er nicht mehr wohnungslos, jetzt ist er obdachlos. „Zuerst war ich erleichtert“, sagt er und schüttelt den Kopf. Keine Briefe, keine Mahnungen, keine Anfragen mehr. Nichts, was erledigt werden muss. Niemand, dem er sich erklären muss. Dann aber kommt die Angst. „Mir wurde klar: Auf Dauer auf der Straße, das überlebe ich nicht.“
Die Führung beginnt am U-Bahnhof Nollendorfplatz
Für Voss werden nun die Ecken der Stadt wichtig, die er in seiner Führung zeigt. Sie beginnt am U-Bahnhof Nollendorfplatz im Bezirk Schöneberg. „Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr, Rückzugsräume, ein 24-Stunden-Supermarkt mit Flaschenautomat – das sind beste Bedingungen für Obdachlose“, erklärt Voss. In den Spätverkaufsstellen können sie die ganze Nacht über einkaufen, in den Flaschenautomaten das Pfandgut einlösen. Schöneberg ist ein liberaler Kiez, sagt Voss. „Hier macht niemand Stress.“ Die Händler des Wochenmarkts auf dem Winterfeldtplatz geben gerne etwas Obst und Gemüse ab, wenn sie nachmittags ihre Sachen zusammenpacken.
Lange Zeit gab es in der Schöneberger Hohenstaufenstraße einen Anlaufpunkt für Wohnungs- und Obdachlose, eine „Wota“ – also eine Wohnungslosen-Tagesstätte. Inzwischen ist sie einige Kilometer weitergezogen. Diese Einrichtungen werden von Hilfswerken betrieben und von Ehrenamtlichen unterstützt. Bedürftige können dort ihre Wäsche waschen, duschen, bekommen etwas Warmes zu essen. Internet- und Telefonanschluss, Briefkästen – für die meisten die einzige Postadresse – und Schließfächer sind vorhanden: „Für viele ist es der Lebensmittelpunkt“, erzählt Voss. „Da bekommt man Hilfe ohne Bedingungen.“
Voss hat immer versucht, den Schein zu wahren
Als Voss mit seinen Zuhörern zum Victoria-Luise-Platz kommt, wird seine Erzählung persönlich. „Am Anfang habe ich nur tagsüber geschlafen“, sagt er, „und die Zeit ansonsten in Nachtcafés verbracht“ – aus Angst vor dem, was passieren könnte, wenn er einnickt.
Die Teilnehmer betrachten die Menschen auf den Bänken. Der dicke Mann mit dem Fahrrad, schlechte Zähne, speckige Kleidung – ein Obdachloser? Und was ist mit dem Dreißigjährigen mit Wanderrucksack? „Fünfzig bis sechzig Prozent der Obdachlosen erkennt man gar nicht auf den ersten Blick“, sagt Voss. Auch er selbst habe immer den Schein gewahrt: geduscht, versucht, seine Kleidung in Ordnung zu halten. „Nur so kann man mal ein paar Stunden im Café sitzen bleiben. Da muss man ja normal aussehen.“
Nach sechs Monaten merkt er: So geht es nicht weiter
Nach sechs Monaten auf der Straße merkt Voss schließlich, dass es nicht mehr geht. Ein Schalter in seinem Kopf legt sich um, sagt er, „ich hatte einen Punkt erreicht, wo ich wusste: Entweder ich lasse mir jetzt helfen oder ich gehe vor die Hunde“. Er spricht mit den Sozialarbeitern in der Wota, kümmert sich um Formulare und Termine und beantragt schließlich finanzielle Unterstützung. Es ist ein langer Prozess, aber es klappt. Mit dem Wohngeld kann er eine kleine Wohnung finanzieren. Inzwischen lebt er von Arbeitslosengeld II und arbeitet ehrenamtlich 30 bis 35 Stunden pro Woche in der Wota in Charlottenburg, in der er damals als Erstes ankam. Jeden Sonntag führt er für das Projekt „Querstadtein“ Interessierte durch sein ganz persönliches Berlin.
Der Bahnhof Zoo ist immer noch geprägt von Kriminalität
Voss hat eine Perspektive: Mit einer Weiterbildung will er sich darauf spezialisieren, EU-Fördermittel zu akquirieren – und damit Wohnprojekte finanzieren, den Obdach- und Wohnungslosen beim Weg zurück in die Gesellschaft helfen. Denn einiges bleibt: das Bewusstsein für Menschen in Not. Das Bewusstsein für die Fallhöhe, die ein Mensch haben kann. Das Bewusstsein dafür, dass er dennoch Mensch ist. „Wir müssen ein bisschen achtsamer sein“, sagt er.
Der Bahnhof Zoo ist eine der letzten Stationen der Tour, aber die Bahnhofsmission sehen die Teilnehmer nur von Weitem, es soll keinen Elendstourismus geben. Carsten Voss bleibt auf dem Bürgersteig stehen, erinnert an „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Die Geschichte der drogensüchtigen Christiane F. ist allen noch im Kopf. „Das ist jetzt über 30 Jahre her, Prostitution, Kriminalität, Drogen – es ist heute noch genau das Gleiche. Nur etwas weniger offensichtlich“, sagt Voss.
"Es ist erschreckend, wie schnell ein Leben weg sein kann"
Er deutet auf die Mission. Dorthin, sagt er, kommen die Menschen, die nicht mal mehr den Weg in die Wotas schaffen. „Sie haben keinen Bezug mehr zu sich selbst, fühlen sich nicht mehr.“ Ein junger Mann, den er dort einmal gesehen habe, wollte neue Schuhe haben – und stand, als er die alten auszog, bis zum Knöchel im eigenen Eiter. Und das, sagt Voss, ist das Schlimmste für ihn gewesen: zu wissen, irgendwann ist er verschwunden, niemand weiß, ob im Krankenhaus, in einem Heim oder „einfach krepiert“. „Es ist erschreckend, wie schnell ein Leben weg sein kann. Spurlos.“