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Skandal: Nach dem Fall Weinstein: Ein Sex-Vorwurf jagt den nächsten

Skandal

Nach dem Fall Weinstein: Ein Sex-Vorwurf jagt den nächsten

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    Beschuldigt: Schauspieler Kevin Spacey.
    Beschuldigt: Schauspieler Kevin Spacey. Foto: Matt Crossick/PA Wire, dpa

    Wäre die ganze Geschichte nicht so ernst, hätte sie nicht so eine unglaubliche Dimension angenommen, müsste man nach den Ereignissen von Mittwochabend fast die Frage stellen: Wie absurd ist das denn?

    Da ist Michael Fallon, 65, Verteidigungsminister in Großbritannien, ein enger Verbündeter von Premierministerin Theresa May, kurzum: eine ziemlich große Nummer in der britischen Politik. Dieser Mann also tritt an einem kalten Abend von seinem Posten zurück – offiziell, weil er vor 15 Jahren der Journalistin Julia Hartley-Brewer wiederholt ans Knie gefasst hat. Was in der Konsequenz bedeutet: sexuelle Belästigung.

    Und wie reagiert die betroffene Frau auf den Rücktritt? Sie fällt aus allen Wolken und sagt: „Das ist ja wohl der absurdeste Rücktritt eines Ministers.“ Sie sehe sich überhaupt nicht als Opfer sexueller Gewalt. Sie habe die Sache längst abgehakt, „meine Knie blieben intakt“, es habe gewirkt, dass sie ihm damals eine Ohrfeige angedroht hat.

    Nun, dieser Vorgang wirkt nur auf den ersten Blick absurd. Fallon entschuldigt sich bei Julia Hartley-Brewer und sagt in einem Interview: „Die Kultur hat sich über die Jahre geändert. Was vor 15 oder zehn Jahren wohl noch akzeptiert wurde, ist ganz klar heute nicht mehr akzeptabel.“ Stellt das die Sache klar? Sicher nicht. Sexuelle Belästigung bleibt es womöglich trotzdem. Auch wenn Hartley-Brewer dann noch via Twitter zum Thema Rücktritt schreibt: „Ich bezweifle, dass mein Knie der Grund war.“

    Er soll zu einer Journalistin „Schlampe“ gesagt haben

    Womit sich allmählich der ganze Ernst der Lage erschließt. Denn was die Journalistin andeutet und inzwischen von vielen Seiten zu hören ist: Es müssen andere Gründe hinter der Entscheidung stecken. Andere Gründe bedeutet: andere Fälle. Es heißt, Fallon habe seiner Regierungschefin nicht garantieren können, dass keine weiteren Vorwürfe bekannt werden.

    Tatsächlich berichten Medien, dass er vor drei Jahren eine andere Journalistin in einer Bar als „Schlampe“ bezeichnet haben soll. Überhaupt falle der Mann unter Alkoholeinfluss hin und wieder aus der Rolle, heißt es bei der BBC.

    Und das ist noch lange nicht alles. Ist der Fall Michael Fallon etwa die berühmte Spitze des Eisbergs? Vieles spricht dafür. Denn der Skandal hat das ganze Londoner Parlament erfasst. Und ein einziger Mann ist für die Lawine an Enthüllungen verantwortlich: Harvey Weinstein.

    Typisch britisch: Künstler haben in Edenbridge in Großbritannien diese Skulptur aufgestellt, die den US-Filmproduzenten Harvey Weinstein zeigt.
    Typisch britisch: Künstler haben in Edenbridge in Großbritannien diese Skulptur aufgestellt, die den US-Filmproduzenten Harvey Weinstein zeigt. Foto: Ben Stansall, afp

    Es ist gerade einmal vier Wochen her, dass zwei Journalistinnen der New York Times über massive Anschuldigungen von Schauspielerinnen gegen den Film-Produzenten schreiben, der über Jahrzehnte hinweg einer der einflussreichsten Hollywood-Größen war. Die Vorwürfe häufen sich schnell. Sie kommen selbst von Stars wie Angelina Jolie oder Gwyneth Paltrow, sie reichen von anzüglichen Bemerkungen und Grapschereien bis hin zur Vergewaltigung. Weinstein bestreitet das alles, die Annäherungen seien „einvernehmlich“ erfolgt. Aber er kann nicht verhindern, dass ganz Amerika über ihn spricht. Und über Sexismus in der Gesellschaft an sich.

    In Großbritannien platzt eine Bombe

    Dann wird das Ganze noch größer. Die Welle schwappt nach Europa. In der deutschen Filmbranche bleibt das Echo zwar vergleichsweise gering; nur einzelne Schauspielerinnen trauen sich, offen darüber zu reden. Doch die Medien diskutieren intensiv über das Geschlechterverhältnis in dieser Zeit, über die Macht der Männer, über Hierarchien in Unternehmen, den Stellenwert von Sex. Experten melden sich zu Wort wie Professor Katja Sabisch von der Ruhr-Universität in Bochum, die darüber spricht, wie normal es noch immer sei, dass viele junge Mädchen denken: Ich muss mich immer ansprechen lassen. Oder: Das ist okay, wenn der mich so anguckt. Die Wochenzeitung Zeit schreibt: „Vielleicht braucht es einen Skandal wie den um Harvey Weinstein, damit Männer in Machtpositionen verstehen, was sie ihren Mitarbeiterinnen zumuten, wenn sie ihnen vermeintlich harmlose Avancen machen.“

    Und plötzlich wird das Thema hochpolitisch. Mitarbeiterinnen aus dem europäischen Parlament beispielsweise beschuldigen mehrere Abgeordnete, sie sexuell bedrängt oder begrapscht zu haben. Es gibt eine Sondersitzung im Plenum, bei der männliche Parlamentarier im ohnehin spärlich besetzten Saal kaum zu sehen sind. Während dort der Aufschrei schnell verhallt, platzt in Großbritannien eine Bombe.

    Unter Mitarbeitern der konservativen Fraktion des Unterhauses zirkuliert Medien zufolge eine Liste mit etwa 40 Abgeordneten, denen „unangemessenes Verhalten“ vorgeworfen wird. Auf der Liste stehen demnach auch Regierungsmitglieder – darunter Michael Fallon. Dessen Rücktritt erhöht nun erheblich den Druck auf Mays Kabinettschef Damian Green. Er soll einer Journalistin während eines Pub-Besuchs ans Knie gefasst und später eine anzügliche Nachricht geschickt haben. Green streitet das vehement ab.

    Dass die Premierministerin am Donnerstag mit dem 41-jährigen Gavin Williamson einen neuen Verteidigungsminister präsentiert, geht in der Aufregung fast unter. Williamson hatte zuletzt den einflussreichen Posten des „Chief Whip“, des Chef-Einpeitschers, der bei wichtigen Abstimmungen für Disziplin in der Tory-Fraktion sorgt. Angeblich nutzen die „Whips“ (Peitschen) dafür auch Informationen über Verfehlungen von Abgeordneten. Fast täglich tauchen neue Vorwürfe gegen Politiker auf. So soll Staatssekretär Mark Garnier seine Assistentin zum Kauf von zwei Vibratoren in einen Sex-Shop geschickt haben. In der oppositionellen Labour-Partei gibt es sogar einen Vergewaltigungsvorwurf, dem jetzt nachgegangen wird.

    Negativ in Erscheinung getreten: Regisseur Brett Ratner.
    Negativ in Erscheinung getreten: Regisseur Brett Ratner. Foto: Nina Prommer, dpa

    Wohin der Skandal noch führt, ist kaum zu prophezeien. Die Dimension ist schon jetzt gewaltig. Auch in den USA dachte man, dass der Fall Weinstein kaum zu toppen ist. Dabei ist auch dort die Welle an Enthüllungen nicht zu stoppen. In Firmen und Vorständen rollen Köpfe, Film- und Fernsehprojekte werden gestoppt, Polizei und Staatsanwälte ermitteln. Und es trifft einen Prominenten nach dem anderen.

    Ein Oscar-Preisträger entschuldigt sich

    Erst die Vorwürfe gegen Kevin Spacey, 58, Star der Kultserie „House of Cards“, die sich am Donnerstag noch einmal erhärten. Hier steht sogar sexueller Missbrauch von Minderjährigen im Raum. Nun Oscar-Preisträger Dustin Hoffman, 80. Die Autorin Anna Graham Hunter berichtet im Magazin Hollywood Reporter, sie habe 1985 als 17-Jährige bei den Dreharbeiten zu „Tod eines Handlungsreisenden“ unter dem deutschen Regisseur Volker Schlöndorff hospitiert, als Hoffman zudringlich geworden sei. Unter anderem habe er sie an den Po gegriffen und obszöne Bemerkungen gemacht. Sie sagt, sie habe sich mit Schlägen gewehrt, als der Schauspieler sie auf dem Weg zu einer Limousine vier Mal angefasst habe. „Er war ein Jäger, ich war ein Kind, und das war sexuelle Belästigung“, schreibt die heute 49-Jährige. Hunter erzählt aber auch, dass Hoffman damals „süß sein konnte“ und sie ihn „gemocht“ habe.

    Zurückgetreten: Verteidigungsminister Michael Fallon.
    Zurückgetreten: Verteidigungsminister Michael Fallon. Foto: Neal/PA Wire, dpa

    Dustin Hoffman reagiert umgehend auf die Anschuldigungen. In einer Erklärung an das Magazin schreibt er, er fühle sich „fürchterlich“, dass er Hunter durch seine Taten „in eine unangenehme Situation gebracht haben könnte“. Das tue ihm leid, „es spiegelt nicht wider, wer ich bin.“

    Und das sind noch nicht alle schlechten Nachrichten, die Hollywood aus Neue erschüttern. Denn auch Brett Ratner, 48, Regisseur von Blockbuster-Streifen wie „Rush Hour“ (mit Chackie Chan), steht im Fokus. Sechs Frauen beschuldigen ihn in der Los Angeles Times, sie sexuell belästigt oder missbraucht zu haben. So berichtet die Schauspielerin Natasha Henstridge, Ratner habe sie Anfang der neunziger Jahre zu Oralsex gezwungen. Auch Kollegin Olivia Munn geht sehr ins Detail. Beide Frauen erklären, die Debatte um Harvey Weinstein habe sie ermutigt, die Vorwürfe jetzt öffentlich zu machen.

    Der Regisseur weist die Anschuldigungen über seinen Anwalt „kategorisch“ zurück. Doch die Branche reagiert sofort. Ratners geplantes Regieprojekt über den kürzlich verstorbenen Playboy-Gründer Hugh Hefner wird – ähnlich wie im Fall Spacey die neue „House of Cards“-Staffel – kurzerhand auf Eis gelegt. Man sei „tief besorgt“ über die Vorwürfe gegen Ratner, sagt ein Sprecher von Playboy Enterprises.

    Was folgt noch? Diese Geschichte mit all ihren Details ist schon jetzt kaum zu glauben. mit dpa und AFP

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