Startseite
Icon Pfeil nach unten
Panorama
Icon Pfeil nach unten

Schweiz: Gegen die Wand

Schweiz

Gegen die Wand

    • |
    Schmelzendes Eis und abstürzende Felswände. Jahrelang hatte man im Jungfrau-Gebiet Angst davor, mit Umweltthemen Anti-Werbung zu machen.
    Schmelzendes Eis und abstürzende Felswände. Jahrelang hatte man im Jungfrau-Gebiet Angst davor, mit Umweltthemen Anti-Werbung zu machen.

    Die Pfingstegg hoch über Grindelwald ist ein behaglicher Ort. Von der Terrasse des Berggasthauses schaut man in ein herrlich grünes Hochtal, das sich bis zu einer fernen Gratlinie hinaufzieht. Dramatische Formen sind nirgendwo zu sehen. Selbst die Gipfelpyramide des Faulhorns wirkt aus diesem Abstand wie der Teil einer dekorativen Fototapete. Es ist eine friedliche Bilderbuchschweiz, die sich dem Betrachter hier bietet.

    Dreht man sich zur Linken, sieht die Welt schon etwas anders aus: Ein garstiger Felsenkoloss versperrt hier den Blick in den Himmel. Mehr als dreitausend Meter hoch, lässt das „Hörnli“ an eine gigantische Kathedrale denken, die Wind und Wetter in Jahrmillionen in ein düsteres Fossil verwandelt haben. Dahinter leuchten die Firnhänge des Eiger-Gipfels hervor – schrecklich und anziehend zugleich.

    Der Boden zitterte und der Staub verdunklete den Himmel

    Das hochalpine Quellgebiet der Weißen Lütschine bietet jedoch noch einen weiteren Schauder: Ein paar Kilometer taleinwärts ist eine zweihundert Meter hohe und ebenso breite Felswand brüchig geworden. Im Sommer 2006 stürzten hier jeden Tag einige Tonnen Kalkgestein auf den Gletscherfuß. Einmal brachen gar 400000 Kubikmeter auf einmal ab. Der Boden zitterte und der aufwirbelnde Staub verdunkelte den Himmel. Er wälzte sich bis nach Grindelwald hinunter, wo besorgte Feriengäste die Nacht auf gepackten Koffern verbracht haben sollen.

    Gewinner der allgemeinen Aufregung war die Pfingsteggbahn, die die Schaulustigen ins Gebirge brachte. Sie bot ein preisgünstiges „Bergsturzticket“ an, das sich bestens verkaufte. Als Dreingabe gab es ein Päckchen mit Papiertaschentüchern, die man sich zum Schutz der Atemwege vor den Mund halten konnte. Wer ängstlich nachfragte, bekam auch noch eine der Feinstaubmasken, die der Schweizer Zivilschutz gestiftet hatte.

    Für die Beschaulichkeit der Pfingsteggterrasse hatten die Sensationstouristen natürlich keinen Sinn: „Viele tranken den Kaffee im Stehen“, sagt die Wirtin kopfschüttelnd: „Niemand wollte den großen Crash verpassen.“ Dafür musste man noch eineinhalb Stunden zu Fuß gehen – hinauf zur Bäregg-Hütte, auf deren Terrasse es kaum noch Stehplätze gab.

    Dass dies keine Gegend für gemütliche Spaziergänge ist, wird einem schon nach wenigen hundert Metern klar. Gerade einmal einen Meter breit, führt der Bergweg durch steilste Grashänge, an deren unteren Ende der Abgrund gähnt. Irgendwann geht es unter einer Felswand hindurch, von der Wasser tropft, dann gießt sich sogar ein richtiger Wasserfall auf den Weg. Auch drüben, jenseits der Gletscherschlucht, stürzen Kaskaden zu Tal. Eben ist auch noch die Sonne hinter dem Eiger-Massiv verschwunden. Es ist jedoch nicht die zunehmende Düsternis, die den Adrenalinspiegel steigen lässt. Viel schlimmer ist die Ungewissheit, wo genau der Berg denn seine Stabilität verloren hat. Könnte nicht jeder der unzähligen Felsentürme sogleich in sich zusammenstürzen? Zu allem Überfluss hat es in den letzten beiden Tagen stark geregnet. Wie haltbar sind die Alpen noch unter diesen Bedingungen? Muss man nicht lebensmüde sein, um eine Nacht in der Bäregg-Hütte verbringen zu wollen?

    Als wir dort ankommen, sind wir erst mal beruhigt – die Abbruchstelle liegt am Gegenhang etwa auf gleicher Höhe. Was immer hier noch abstürzt, es kann uns ganz sicher nicht auf den Kopf fallen. Außerdem ist das meiste ja längst herunter gekommen. Der Gletscherfuß hat sich in eine grauschwarze Geröllhalde verwandelt, in der die noch verbliebenen Reste der Felswand langsam versinken. Ob darunter noch Eis liegt, ist nicht auszumachen.

    Die Aussichtsterrasse, auf der damals von morgens bis abends die Fotoapparate klickten, ist heute Abend menschenleer. In der zerborstenen Steilwand rieselt es ein bisschen, aus der Ferne rauschen die Wasserfälle, ansonsten herrscht gespenstische Stille.

    Auch drinnen sind nur zwei Tische besetzt. An einem hockt eine Gruppe Berner. Am anderen sitzen vier Sachsen vor einer Flasche Wein. Zwei von ihnen sind das erste Mal in den Alpen. Von einem Bergsturz wissen sie nichts, statt einer Wanderkarte haben sie eine Straßenkarte dabei. Erstaunlich, wie schnell das Interesse am vermeintlichen Jahrhundertereignis wieder abgeflaut ist. Auch Hansruedi Burgener, der Bäregg-Wirt, widmet dem in Bewegung gekommenen Berg kaum Aufmerksamkeit. „Wir sind hier im Hochgebirge, da rutscht und stürzt immer was, das ist seit Urzeiten so und wird auch in Zukunft so sein“, sagt er trocken.

    Irgendwann stand die alte Hütte zur Hälfte über dem Abgrund

    Am Abend zeigt er uns ein Amateurvideo aus dem Jahre 2002. Gedreht hatte es der Sohn des Schafhirten. Es zeigt, wie sich eine gigantische Steinmure auf ihn zuwälzt, ganz in der Nähe der Vorgängerhütte der Bäregg. „Er konnte gerade noch zur Seite springen“, erzählt Burgener. „Das war aber erst der Anfang!“ Fast im Jahresrhythmus schossen nun Wasser und Steine durch den Tobel und irgendwann stand die alte Hütte zur Hälfte über dem Abgrund. Der Großteil des Plateaus war über Nacht in der Gletscherschlucht verschwunden. Verursacher war der sich zurückziehende Gletscher. Wo dieser über Jahrtausende den Moränenhang stabilisierte, fehlte nun der Gegendruck und der Untergrund kollabierte.

    Der medienwirksame Felssturz von 2006 hatte den gleichen Grund: Nach dem Rückzug des Gletschers, der 1860 noch bis knapp unter die alte Hütte gereicht hatte, entladen sich die Spannungen im Felsen. Dazu kommt, dass Schmelzwasser den Weg in Risse und Spalten gefunden hat. Nicht erst der Frost, sondern allein der Wasserdruck sprengt nun die vordem kompakte Gesteinsmasse auseinander. Deshalb passiert in den Wintermonaten auch kaum etwas. Erst im Frühjahr, wenn das gefrorene Wasser wieder aufzutauen beginnt, setzt der Prozess von Neuem ein. Nehmen die Temperaturen im alpinen Hochgebirge weiter so zu wie in den letzten Jahren, werden die nächsten Felsbrüche nicht lange auf sich warten lassen.

    Wer mehr über die Folgen des Klimawandels erfahren will, muss weiter in Richtung Schreckhornhütte aufsteigen. Nach einer Stunde, in der man sich den schmalen Bergsteig mit freilaufenden Schafen teilen muss, weitet er sich zu einem perfekten Logenplatz – einer gras bewachsenen Bergschulter, von der aus man Mönch, Schreckhorn und Fiescher Horn zugleich sieht. Das ewige Eis des Unteren Grindelwaldgletschers liegt nun genau gegenüber, zum Greifen nah. Hier spielt sich das eigentliche Klima-Drama ab: Im steilsten Teil des Gletschermeeres brechen fast im Halbstundentakt mächtige Eispakete ab und stürzen mit großem Getöse auf den Gletscherrücken. Ein Naturschauspiel ersten Ranges, das hautnah mitzuerleben ist und um so eindrücklicher wirkt, als man hier oben ganz alleine ist.

    Womöglich sind es die Warnschilder des Schweizer Alpenclubs, die die Touristen von diesem einmaligen Aussichtspunkt fernhalten. Sie weisen schon kurz hinter der Bäregg auf Deutsch, Englisch, Französisch und Japanisch darauf hin, dass man sich auf eine „alpine Route“ begibt, sich also den unkalkulierbaren Gefahren des Hochgebirges aussetzt. Wirklich gefährlich ist allerdings nur die Durchquerung des Tobels, von dem der Schafhirtensohn damals die spektakulären Aufnahmen machte. Geologen rechnen hier mit weiteren Murenabgängen und Steinschlägen. Eindeutige Ursache ist das Auftauen des Permafrosts – auch dies natürlich eine Folge der Klimaerwärmung.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden