Wolfgang Bergmann zum Gedächtnis
An einem der ersten schönen Tage saß ich auf dem Balkon und genoss die Sonne. Von der Straße drang das Schreien eines Kleinkindes herauf. Eine junge Mutter schob ihr Kind in einem schwarzen Designer-Kinderwagen vor sich her. Sie trug eine Hiphop-Mütze und eine großflächige Sonnenbrille. Sie telefonierte mit ihrem Handy. Das Schreien des Kindes wurde immer wütender und lauter. Die Mutter hielt an, beugte sich hinab und nestelte aus dem am Wagen hängenden Einkaufsnetz irgendeine Süßigkeit hervor, die sie dem Kind in den Mund stopfte. Gierig lutschte es die Süßigkeit in sich hinein. Die Frau schob den Wagen weiter und setzte ihr Telefonat fort. 150 Meter weiter begann das Schreien von neuem. Seine Dezibelstärke konnte mit einer Kreissäge konkurrieren. Wieder folgte der Griff ins Einkaufsnetz, wieder bekam das Kind „das Maul gestopft“. Lachend sagte die Mutter etwas in ihr Telefon und ging weiter.
Auf die Idee, dass das Kind weint, weil es sich einsam fühlt und das Telefonieren als Missachtung empfindet, kam diese Mutter offensichtlich nicht. Man muss ja nur für einen Moment die Perspektive wechseln und sich vorstellen, man ginge als Erwachsener mit jemandem spazieren, der unablässig in sein Handy hineinredet. Man würde es kein zweites Mal tun. Kinder haben nicht die Wahl, und so sitzen sie ratlos und verstört in ihren Wagen, während Mutter oder Vater mit anderen Menschen sprechen. Nie sind sie wirklich bei ihrem Kind. Was sollen diese Kinder machen? Sie schreien sich die Seele aus dem Leib, weil die erfahrene Bindungslosigkeit sie in einen Zustand bodenloser Angst versetzt. Vorbei die Zeiten, da Mütter den Kinderwagen schoben und dabei mit ihrem Kind plapperten und lauthals Kinderlieder sangen, zum Beispiel "Nur wenn du den Blick hebst, kannst du die Sterne sehen. Nur wenn du den Blick hebst, kannst du nach vorne gehen".
Die Sterne des Kindes sind die Augen der Mutter
Die Sterne des Kindes sind - im Sinne Kohuts - die Augen der Mutter - und der Glanz des Glücks in ihnen, der auf das Kind zurückfällt und von ihm als Glücksversprechen und Gewissheit des eigenen Werts verinnerlicht wird. Die Mutter und die Welt sind anfangs eins, die Mutter gibt dem Kind im Rahmen dessen, was Margaret Mahler als die „psychische Geburt des Kindes“ bezeichnet hat, also in einem Akt fortgesetzter Schöpfung, seine Realität: Das Kind existiert, weil und insofern die Mutter es sieht. Diese leiht ihm ihre Augen. Wenn das Kind seinen Blick um sich herum schweifen lässt, spiegeln ihm die Dinge den mütterlichen Blick wider. Eine Mutter, die ihre Augen hinter einer Sonnenbrille verbirgt und ständig „anderswo ist“, beraubt das Kind seines Realitätsbezugs und damit seiner Wahrheit.
Mütter und Väter sollten also, wenn sie mit ihrem Kind zusammen sind, mit ihm im Dialog und einem regen emotionalen Austauschprozess und nicht mit anderen Dingen beschäftigt sein. Die liebende Aufmerksamkeit der Eltern und die sichere Bindung an diese offenbaren dem Kind sein Leben als eine Bewegung auf ein Ziel hin: Das Kind ist, wie Jean-Paul Sartre im ersten Band seines Werkes „Der Idiot der Familie“ schreibt, „der bewusste Pfeil, der mitten im Flug erwacht und zugleich den fernen Bogenschützen, das Ziel und den Rausch des Fliegens entdeckt. Wenn es wirklich die erste Pflege, die ihm durch das vielfältige Lächeln der Welt gewidmet wurde, in seiner ganzen Fülle empfangen, wenn es sich in der archaischen Zeit des Stillens absolut souverän gefühlt hat, dann werden die Dinge weitergehen.“
Welches Kind hätte nicht Grund, über seine Eltern zu weinen?
Die Krux ist, Liebe und Zuwendung lassen sich nicht verordnen. „Vor allem aber“, schrieb Adorno in seinem berühmten Aufsatz „Erziehung nach Auschwitz“ aus dem Jahr 1966, „kann man Eltern, die selber Produkte dieser Gesellschaft sind und ihre Male tragen, zur Wärme nicht animieren. Die Aufforderung, den Kindern mehr Wärme zu geben, dreht die Wärme künstlich an und negiert sie dadurch.“ Wenn Kälte und Indifferenz, die aus der Grundstruktur dieser Gesellschaft stammen, inzwischen bis in die Poren des Alltagslebens und die intimen Binnenwelten der Menschen vorgedrungen sind und sogar das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern prägen, ist es zu spät. Man darf sich nicht wundern, dass unter solchen Bedingungen vermehrt psychisch frigide und moralisch verwilderte Menschen heranwachsen. Der nur an privater Nutzenmaximierung interessierte und zur Einfühlung in andere unfähige „Psychopath“ droht zur sozialpsychologischen Signatur des globalen Zeitalters zu werden. Es mag sein, dass heutige Kinder weniger geschlagen und körperlich gezüchtigt werden, aber dafür haben sie unter neuartigen Entbehrungen zu leiden, die womöglich nicht minder grausam sind. Nietzsches Satz: „Welches Kind hätte nicht Grund, über seine Eltern zu weinen?“ hat offensichtlich nichts an Aktualität eingebüßt.
Um noch einmal auf die Ausgangsgeschichte zurückzukommen: Vielleicht muss das Kind warten, bis es über ein eigenes Handy verfügt. Dann kann es vom Kinderwagen aus, wenn es nach Aufmerksamkeit und Zuwendung dürstet, mal bei seiner telefonierfreudigen Mutter „anklopfen“.