300.000 Menschen ließen sich im vergangenen Jahr in Deutschland freiwillig das tödlichste Gift überhaupt injizieren: Botulinumtoxin, besser bekannt als Botox. Eine von ihnen war Michaela. Mit ihrer Entscheidung liegt die 30-Jährige im Trend, denn seit Jahren lassen sich immer mehr Menschen ihre Falten mit Botox glätten oder die Lippen mit Hyaluronsäure aufspritzen. Laut der Vereinigung der deutschen ästhetisch-plastischen Chirurgen stiegen diese minimalinvasiven Behandlungen im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2022 um 10,5 Prozent.
Eine Tendenz, die nicht nur Michaela bestätigen kann, sondern auch Michael J. Weidmann. Er führte im vergangenen Jahr ungefähr 1000 Botoxbehandlungen durch, die Zahl steige jedes Jahr um zehn bis 15 Prozent, sagt er. Weidmann ist seit 2002 Dermatologe in Augsburg, seit 25 Jahren führt er ästhetische Eingriffe durch. Inzwischen kommen mindestens doppelt so häufig Menschen wegen minimalinvasiver Eingriffe zu ihm als noch vor zehn Jahren. Und wer?
Besonders die Zahl sehr junger Patientinnen steige in den letzten Jahren an
Die Altersspanne reiche von 18 bis 90 Jahren, Frauen zwischen 50 und 60 Jahren würden einen großen Anteil der Patientinnen ausmachen. 15 bis 20 Prozent der Patienten seien Männer. "Besonders die Zahl der sehr jungen Patienten nimmt enorm zu durch die ganzen Influencer", sagt Weidmann.
Die Patientinnen und Patienten orientieren sich an Bildern, die sie in den sozialen Medien sehen. An anderen oder am eigenen Bild – mit Filter. Denn Beauty-Filter sind inzwischen Standard. Sie zaubern perfektes Make-up, machen die Nase schmaler, die Lippen größer, die Augen wacher. Und das, ohne dass es Konsumentinnen und Konsumenten bemerken.
Beauty-Filter können die Wahrnehmung von Schönheit beeinflussen
"Kurzfristig hat die Anwendung solcher Filter den Effekt, dass man einen Schönheitsboost erlebt. Der fatale langfristige Effekt ist, dass sich die Norm im Kopf stark verändert, wenn man nur noch gefilterte Versionen von sich und anderen sieht", sagt Claus-Christian Carbon. Er ist Wahrnehmungspsychologe an der Universität Bamberg und forscht zu den Themen Ästhetik und Selbstwahrnehmung. Die gefilterte Version erscheine einem schnell normal und das eigene Bild im Spiegel hässlich. Dann entstehe das Gefühl, etwas verändern zu müssen.
Auch Michaela, die nicht mit vollem Namen genannt werden möchte, entschied sich im Dezember für eine Botoxbehandlung. Ihre Zornesfalte hatte sie seit fünf Jahren gestört und sie hoffte, sich schöner zu fühlen. Sie habe zwar Berichte von Influencerinnen angeschaut, sagt sie, beeinflusst habe das ihre Entscheidung nicht.
"Nach der Erfahrung mache ich das aber nicht noch mal", sagt die 30-Jährige heute. Das Einstechen der Spritzen sei für sie sehr schmerzhaft gewesen. "Ich habe richtig gespürt, wie die Flüssigkeit unter meine Haut kam." Das Ergebnis nach ein bis zwei Wochen habe ihr schon "ziemlich gut gefallen. Meine Augen waren offener." Ungefähr zwei Monate blieb die Wirkung, dann bemerkte Michaela Hautzuckungen in der Region der Einstichstelle bis zur Nase. "Das war unheimlich. Das fühlte sich an, als würde das Gift in den Körper gehen."
Die Nebenwirkungen reichen von Empfindungsstörungen bis zur Nekrose
Die Nebenwirkungen von Botox- oder Hyaluronbehandlungen sind "nicht trivial", sagt Weidmann. Neben Zuckungen kann es bei Botox zu Empfindungsstörungen oder hängenden Gesichtspartien, etwa einer Augenbraue, kommen. "Früher behandelte man nur Falten, heute auch die Gesichtsform. Dafür muss man tiefer spritzen und es kann zu einer Störung der Durchblutung kommen. Im schlimmsten Fall entsteht eine Nekrose, ein Loch in der Haut." Beim Spritzen von Hyaluron können Verhärtungen in den Lippen entstehen oder – gravierend, aber sehr seltene – Blindheit. Dennoch werben Influencer auf Instagram und Tiktok für die Eingriffe. Bei den Videos, die Michaela schaute, hatte sie das Gefühl, "die verharmlosen das." Von Nebenwirkungen war nie die Rede.
Auf Tiktok ist gerade Baby-Botox besonders beliebt. "Das heißt, man spritzt präventiv bei sehr jungen Patientinnen geringe Dosen Botox, um eine natürliche Restmimik zu erhalten. Dann entwickeln sich im Alterungsprozess weniger Falten", sagt Dermatologe Weidmann. "Es ist sinnvoll, Anfang der 20er damit anzufangen, um Falten vorzubeugen." Doch auch wenn beim Babybotox geringere Mengen verwendet werden, lähmt das Gift gezielt einzelne Muskeln im Gesicht und das Mimikrepertoire verringert sich. So beugt man zwar Falten vor, gleichzeitig kann man aber emotionale Zustände nicht mehr zeigen. "Ich erkaufe es mir dadurch, dass ich eines meiner wichtigsten Kommunikationstools, die emotionale Sprache des Gesichts, nicht mehr nutzen kann", sagt der Psychologe Carbon.
Baby-Botox beugt durch die Verringerung der Mimik Falten vor
Daneben erkauft man die Faltenfreiheit mit Geld. Eine normale Botoxbehandlung an drei Stellen kostet etwa 350 bis 400 Euro. Baby-Botox ist etwas günstiger, weil geringer dosiert, dafür muss man es öfter anwenden. Günstig ist glatte Haut nicht.
Auch Michaela bemerkte Veränderungen an ihrer Mimik. "Mein Chef konnte mich gar nicht mehr ernst nehmen, wenn ich sauer war, weil da keine Falte war und ich so neutral geschaut habe", erzählt sie. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass sie statt ihrer Zornesfalte andere Muskelgruppen im Gesicht verstärkt nutzte, wodurch die Falten an anderen Stellen sich vermehrten. Bei der Botoxbehandlung schlug ihr die Ärztin vor, auch die Stirnfalten mitzubehandeln. "Das fand ich nicht sehr unterstützend. Es gab mir das Gefühl, dass mehr an mir nicht stimmt. Das macht etwas mit dem Selbstbild." Heute ist Michaela froh, es ausprobiert zu haben, da sie jahrelang täglich über diese Falte nachdachte, wie sie sagt. Dennoch lebt sie jetzt lieber mit ausgeprägter Zornesfalte.
Psychologe Carbon: "Eigentlich interessiert uns Attraktivität, nicht Schönheit"
"Eigentlich interessiert uns Attraktivität, nicht Schönheit. Wir wollen anziehend sein für andere", sagt Carbon. Dafür sei Schönheit eine Komponente. Carbon warnt davor, die Schönheitsindustrie zu verteufeln, Menschen hätten schon immer Spaß an Schönheit gehabt. Und daran, sich schön zu fühlen. Gleichzeitig entsteht "Attraktivität aber erst durch die Persönlichkeit und Individualität", so Carbon.