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Russland: Vater nach jahrelangem Missbrauch getötet: Kommen die Schwestern frei?

Russland

Vater nach jahrelangem Missbrauch getötet: Kommen die Schwestern frei?

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    Kommen die Geschwister Chatschaturjan nun doch wieder auf freien Fuß?
    Kommen die Geschwister Chatschaturjan nun doch wieder auf freien Fuß? Foto: Krasilnikov, Karpukhin, Tass, dpa

    Alexej Parschin war beharrlich. Eineinhalb Jahre lang hatte der Anwalt auf diesen Tag, auf diese Entscheidung, ja dieses eine Wort gewartet: Notwehr. Am Donnerstagabend war es gefallen – und gibt damit der ohnehin scharfen Diskussion über häusliche Gewalt in Russland stärkeren Auftrieb.

    Die russische Generalstaatsanwaltschaft erkennt im Fall der drei Schwestern Chatschaturjan, die im Juli 2018 ihren Vater mit 36 Messerstichen getötet haben, „Handeln aus Notwehr“ an und weist diesen an die Ermittlungsbehörden zurück. Dadurch müssten die Frauen freikommen. Bislang hatten ihnen wegen verabredeten und gemeinsam begangenen Mordes 20 Jahre Haft gedroht. Sie werden erneut psychologisch-psychiatrisch untersucht.

    Fall Chatschaturjan: Handelten die Schwestern aus Notwehr?

    Maria, Angelina und Krestina Chatschaturjan waren 17, 18 und 19 Jahre alt, als sie auf ihren schlafenden Vater Michail in ihrer Wohnung am Rande Moskaus mit einem Messer einstachen und mit einem Hammer einschlugen. Der 57-Jährige verblutete im Treppenhaus. Die Schwestern gestanden die Tat. Sie hätten keinen anderen Ausweg aus ihrem Martyrium häuslicher Gewalt gesehen, so ihre Anwälte. Der Vater, ein in Moskau lebender Armenier, habe seine Töchter jahrelang misshandelt, sexuell missbraucht, sie mit Pistolen bedroht und ihnen teils zugerufen: „Ich bringe dich heute um, du Schlampe.“

    Der Waffennarr mit krimineller Vergangenheit soll auch Nachbarn terrorisiert haben. Seine Frau habe er mit dem Sohn vor Jahren aus der Wohnung geworfen. Trotz mehrmaliger Hinweise auf häusliche Gewalt bei den Chatschaturjans waren die Behörden nicht eingeschritten.

    Genau diese psychischen Leiden der Frauen und die Tat, die daraus erfolgt sein soll, führt die Generalstaatsanwaltschaft nun an. Alexej Parschin, der Anwalt von Angelina Chatschaturjan, und viele seiner Kollegen hatten von Anfang an darauf plädiert. Der Fall löste in Russland große Solidarität mit den drei Schwestern aus. Theaterstücke entstanden, Demonstrationen folgten.

    Häusliche Gewalt ist ein Tabuthema in Russland

    Gewalt in Familien ist ein Tabu in Russland – und dennoch alltäglich. Den Satz „Wenn er schlägt, dann liebt er“ aus einem mittelalterlichen Gesetzeskodex und das daraus folgende Verhalten nehmen auch heute viele im Land als Normalität in einer Beziehung hin. Verlässliche Zahlen zur häuslichen Gewalt gibt es nicht. Laut Umfragen hat mindestens ein Fünftel der russischen Frauen Gewalt durch den Partner erlebt. Betroffen sind auch viele Kinder.

    Fast 80 Prozent aller wegen Mordes verurteilten Frauen im Land, heißt es in einer Untersuchung des Online-Portals Mediazona, seien zuvor von gewalttätigen Partnern misshandelt worden. „Häusliche Gewalt“ ist in russischen Gesetzen nicht definiert, auch der russische Präsident sieht keine Notwendigkeit dafür, weil es bereits viele andere Gesetze gebe. Mittlerweile aber liegt dem Föderationsrat, dem Oberhaus des russischen Parlaments, ein Gesetzesentwurf zur häuslichen Gewalt vor. Vor allem die russisch-orthodoxe Kirche spricht sich gegen die Annahme eines solchen Gesetzes aus. Es störe das Familienleben.

    Seit 2017 gilt häusliche Gewalt als Bagatelle und wird mit einem Bußgeld von umgerechnet 70 Euro geahndet. Als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Russland vor wenigen Monaten aufforderte, Frauen besser vor häuslicher Gewalt zu schützen, bezeichnete das russische Justizministerium das als „deutlich übertrieben“. Die Forderung der Straßburger Richter sah es als „Diskriminierung von Männern“ an. Diese Aussagen zeigen die grundlegende Haltung des russischen Staates zu Gewalt in Familien.

    Drei Schwestern sitzen bisher in Hausarrest - kommen sie frei?

    Weil die Gesetzeslage so unklar ist, wissen selbst Polizisten oft nicht, wie sie sich verhalten sollen. Auch Richter weisen Klagen gegen schlagende Ehemänner, Väter und Partner schon einmal mit dem lapidaren Satz zurück: „Für die Klägerin hat Gewalt System-Charakter, sie müsste ja dran gewöhnt sein“. Notwehr, vor allem mit Waffen wie Messer, Kugelschreibern oder Äxten, stufen viele Gerichte als „sozial unverträgliche Methoden“ ein. „Sozialverträglich“ sind Weglaufen und Verstecken vor dem Peiniger.

    Krestina, Angelina und Maria Chatschaturjan konnten sich nicht mehr verstecken und stehen seit mehr als einem Jahr, getrennt voneinander, unter Hausarrest. Kommt es zur Einstellung ihres Verfahrens, wäre das ein starkes Zeichen in einem Land, in dem Klapse und Kopfnüsse als Erziehungsmethoden gesellschaftlich akzeptiert sind.

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