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Rettungsdienst: Dem Roten Kreuz fehlt es an Nachwuchs

Rettungsdienst

Dem Roten Kreuz fehlt es an Nachwuchs

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    150 Jahre Bayerisches Rotes Kreuz / Rotes Kreuz Neuburg / mit den Rettungskräften Ann-Kathrin Gesierich und Hans-Peter Baumgartner.
    150 Jahre Bayerisches Rotes Kreuz / Rotes Kreuz Neuburg / mit den Rettungskräften Ann-Kathrin Gesierich und Hans-Peter Baumgartner. Foto: Bild: Ulrich Wagner

    Die alte Dame auf dem Gehsteig weicht unwillkürlich zurück. Eine Schrecksekunde lang sieht es so aus, als würde ihr Rollator einen winzigen Schwenk Richtung Hauswand machen. Dann wischt das Bild auch schon weg. Im hinteren Teil des Rettungswagens ND 71/3 ist durch ein Guckfensterchen zum Führerhaus immer nur ein kleiner, sich laufend verändernder Ausschnitt der Neuburger Innenstadt zu sehen. Die Signaltöne des Martinshorns klingen hier drinnen gedämpft. Draußen fahren sie den Passanten in die Glieder. Ein Notfall! Platz machen!

    Als Mitfahrer auf dem Sitz neben der noch leeren Krankentrage ist man abgeschottet, die Frau am Steuer ist nicht zu sehen. Sie wird angespannt sein. „Man weiß nie, wie die Autofahrer reagieren“, hat Ann-Kathrin Gesierich vor der Abfahrt gesagt. Die 23-jährige Rettungsdiensthelferin musste einen speziellen Führerschein machen, um den 4,6 Tonnen schweren Rettungswagen des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK) fahren zu dürfen. Trotz roter Ampel tastet sie sich jetzt mit Blaulicht und Martinshorn vorsichtig über eine Kreuzung.

    Ruhe bewahren, auch wenn es auf jede Minute ankommt

    Der Mann auf dem Beifahrersitz wirkt von links hinten gesehen ganz ruhig. Hans-Peter Baumgartner heißt er, Rettungsassistent mit mehr als 20 Jahren Berufserfahrung. Er vertraut der jungen Kollegin am Steuer, die seit März fest angestellt ist. Im Rettungsdienst muss sich jeder auf jeden und jede verlassen können. Die Teams arbeiten im Schichtbetrieb rund um die Uhr und werden immer wieder neu eingeteilt. 32 Hauptamtliche sind es in den zwei Rettungswachen des BRK-Kreisverbandes Neuburg-Schrobenhausen. Sechs weitere Stellen müssen mit Ehrenamtlichen, Teilzeitkräften und „Bufdis“ – Angehörigen des Bundesfreiwilligendienstes – besetzt werden.

    Nur so bleibt das zivile Sicherheitsnetz tragfähig – in Neuburg, wie in anderen ländlichen Regionen. Aber das Rote Kreuz hat zu kämpfen – wenn auch anders als bei seiner Entstehung auf den Schlachtfeldern Europas vor 150 Jahren. „Aus Liebe zum Menschen“ lautet das Jubiläumsmotto. So große Worte gebraucht an diesem Einsatztag niemand. Im Alltag zählt nur, dass alles funktioniert. Wer die Nummer 112 wählt, erwartet schnelle Hilfe. So, als ob das selbstverständlich wäre.

    Das Notarzt-Auto steht schon da, als der Rettungswagen in die Einfahrt eines Wohnheims einbiegt. Welche Art Hilfe gebraucht wird, erfahren die Rotkreuzhelfer bei der Alarmierung. „Akute Atemnot“ ist auf dem Display des Navigationsgerätes zu lesen. Die Integrierte Leitstelle im gut 20 Kilometer entfernten Ingolstadt hat den Grund des Einsatzes und die Adresse der Patientin dort programmiert.

    Der Ablauf ist straff organisiert. Rettungsrucksack, Sauerstofftasche und EKG-Gerät müssen mit zur Patientin. Hans-Peter Baumgartner hängt sich die schweren Behältnisse über die Schultern, Ann-Kathrin Gesierich öffnet die Flügeltüren am Heck des Fahrzeugs. Die Trage wird herausgezogen, das Fahrgestell aufgeklappt. Routiniert schiebt die dunkelhaarige Frau das Gefährt Richtung Eingang und sucht im langen Flur den Lift. Eng ist es hier. Nur ganz knapp kriegt die Helferin die Kurve in den Aufzug.

    Der Notarzt Dr. Eckart Friedrich, der im Pkw vorausgefahren war, kümmert sich bereits um die nach Luft ringende Frau. Mit einem Spray hat er ihren Blutdruck abgesenkt, über eine Atemmaske bekommt sie Sauerstoff. Die Kranke ist aufgeregt, ihre Tochter ist es auch. Nur das Retterteam strahlt Ruhe aus. Nach einer Weile überträgt sich diese auf die Patientin. Bei der Abfahrt zum Krankenhaus hat sich ihr EKG bereits normalisiert.

    Härtetest am ersten Einsatztag

    Das Wendemanöver auf dem schmalen Weg am Heim ist ein Geduldsspiel. Die Fahrerin muss den großen Kastenwagen x-mal zurück- und wieder vorstoßen und sich dabei über die Außenspiegel orientieren. Hektisch werden darf sie nicht. Sie schafft es souverän. Die Ausbildung für den Helferführerschein war nur eine von vielen Schulungen, die sie absolvierte – alle in der Freizeit. Denn 2010 war sie mit Wochenend-Diensten zunächst ehrenamtlich eingestiegen. Weil sie hauptberuflich noch als Industriekauffrau arbeitete, ging für Fortbildungen ihr Jahresurlaub drauf. Ihr Beweggrund: „Ich wollte ehrenamtlich etwas Sinnvolles tun.“

    Ein Onkel, der selbst beim Roten Kreuz beschäftigt ist, hatte ihr Interesse geweckt. Von Erster Hilfe habe sie damals nicht mehr verstanden als jeder Führerscheinneuling. Aber sie ließ es auf einen Versuch ankommen, zunächst als Praktikantin, als dritte Kraft im Rettungsteam: „Alles war sehr aufregend.“

    Den Härtetest bestand sie gleich an ihrem ersten Tag. Es war einer mit besonders vielen Einsätzen, darunter ein Verkehrsunfall, bei dem Schwerverletzte mit einem Hubschrauber in eine Klinik gebracht werden mussten. Dass es um Leben und Tod geht bei diesem Ehrenamt, wurde der damals Zwanzigjährigen schlagartig bewusst. Es schreckte sie nicht ab. Sie blieb, obwohl ihr seither manches Ereignis zu schaffen gemacht hat. Sie leidet mit, wenn ein Kind verunglückt und die Eltern verzweifelt sind, oder wenn ein alter Mensch voller Angst in der Wohnung zurückbleibt, während sein Partner ins Krankenhaus muss. Sie lernte, mit ihrem Mitgefühl umzugehen. „Die Nachbesprechungen sind da sehr wichtig“, sagt sie.

    Scheu, einen fremden Menschen anzufassen, Angst, ihm wehzutun oder etwas falsch zu machen, empfand ganz am Anfang auch Ann-Kathrin Gesierich. „In der Praxis verliert sich das“, sagt sie. Zimperlich ist sie sowieso nicht. Ihre umsichtige, beherzte Art kommt ihr zugute. Dass der Rettungsdienst zu ihrem Beruf wurde, habe mit dem guten Betriebsklima zu tun, verrät sie. Außerdem habe sie in ihrem alten Job immer nur befristete Verträge bekommen. „Jetzt mache ich eben das, was mir großen Spaß macht.“

    Relativ schlechte Bezahlung

    Im Moment nimmt sie dafür sogar in Kauf, weniger zu verdienen als vorher. Aber dabei wird es nicht bleiben. Die Prüfung zur Rettungssanitäterin steht ihr bevor. 160 Stunden Theorie hat sie dafür gepaukt, 160 Stunden Klinikpraxis in der Intensivstation, im OP, in der Anästhesie, in der Notaufnahme und 160 Stunden als Praktikantin im Rettungsdienst geleistet. Nach bestandener Prüfung wird sie wieder so viel Geld verdienen wie zuvor. „Sonst hätte ich es bestimmt nicht gemacht“, sagt die 23-Jährige.

    Das Gehalt bietet allerdings keinen besonderen Anreiz, sich in Acht- bis Zwölf-Stunden-Schichten der Lebensrettung zu verschreiben. „Die Bezahlung ist relativ schlecht, ähnlich wie im Pflegedienst“, muss der Neuburger Rettungsdienstleiter Peter Erdle einräumen. Und die schulische Ausbildung ist auch noch aus eigener Tasche zu bezahlen. „Ohne eine gehörige Portion Idealismus geht es nicht“, sagt Erdle.

    Neue Mitarbeiter zu finden, sei heute sehr schwer. Die Vollbeschäftigung in der Region wirke sich aus. Auch die Zivildienstleistenden, von denen früher immer einige geblieben sind, fehlen als Nachwuchs. Zudem würden Rettungssanitäter von Kliniken für ihre Notaufnahmen abgeworben. Der Monatsverdienst liege dort um bis zu 1000 Euro höher.

    Ohne Ehrenamtliche wären die Schichten rund um die Uhr kaum zu besetzen. Der Notarzt Dr. Eckart Friedrich zum Beispiel ist pensionierter Chefarzt aus Roth bei Nürnberg, sein Fahrer Stefan Hanowski arbeitet sonst zwischen Telefon und Computer in der Leitstelle in Ingolstadt. Beiden würde etwas fehlen, wenn sie nicht praktisch arbeiten könnten. Für die Rettungswache in Neuburg ist es ein Glück.

    Für Private sind nur die Ballungsräume interessant

    Konkurrenz durch private Rettungsdienste gebe es auf dem Lande nicht, sagt Erdle. Denn für Private seien nur die Ballungsräume interessant, wo eine hohe Auslastung von Fahrzeugen und Einsatzkräften sicher ist. Tage wie dieser wären für sie ein Verlustgeschäft. Nur drei Einsätze haben Hans-Peter Baumgartner und Anne-Kathrin Gesierich in der Schicht von 7 bis 15 Uhr. Einer davon ist ein Krankentransport. Ein weiterer der Fehlalarm eines Hausarztes, der aus seiner Sprechstunde nicht weg kann, um die Sehstörung einer Altenheim-Bewohnerin abzuklären. Deshalb ruft er vorsorglich den Notarzt – wegen Verdachts auf Schlaganfall.

    Zwischen den Einsätzen heißt es Warten. Zeitunglesen, für die Prüfung lernen, reden, essen. Von einer Sekunde auf die andere kann es damit vorbei sein. Herzinfarkt, Schlaganfall, Sturz von einem Baugerüst – alles ist möglich. Oder ein Verkehrsunfall. Schlimmstenfalls so einer wie an Anne-Kathrin Gesierichs erstem Tag.

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