Herr Reich, Sie sind ja meines Wissens nach der einzige Priester und Sexualtherapeut in Deutschland, der Zölibatsberatung in seiner Praxis anbietet. Wie wichtig ist denn so ein Angebot?
Joachim Reich: Ich vergleiche es immer mit der Eheberatung, die von der katholischen Kirche seit Jahrzehnten zum Beispiel durch die Caritas angeboten wird. Da würde kaum jemand sagen, dass so ein Service nicht sinnvoll wäre. Im Gegenteil, die Kirche unternimmt viel, um qualifizierte Beratung anzubieten. Traurigerweise gibt es das für Menschen im Zölibat nicht. Viele fühlen sich von der Kirche alleingelassen oder an Psychologen und Psychiater abgeschoben. Diese haben wiederum in den seltensten Fällen wirkliche Ahnung von den Lebenswelten katholischer Geistlicher oder Nonnen.
Wer kommt denn zu Ihnen?
Reich: Viele Anfragen kommen von Priestern, die in einer Diözese zum Beispiel als Pfarrer oder Kaplan arbeiten. Dann gibt es Anfragen von Mitgliedern geistlicher Gemeinschaften und Orden. Eine kleinere Anzahl von Anfragenden sind Frauen oder Männer, die als geheime Partnerin oder geheimer Partner eines Zölibatärs beziehungsweise Ordenschristen betroffen sind und sich auszusprechen. Manchmal kommen beide gemeinsam. Das ist aber eine sehr kleine Gruppe.
Was sind die hauptsächlichen Anliegen, mit denen die Klienten bei der Zölibatsberatung zu ihnen kommen?
Reich: Der größte Teil der Ratsuchenden befindet sich in einer akuten Zölibatskrise und sucht einen Ausweg. Zum Beispiel eine natürlich heimliche Beziehung und die Partnerin oder der Partner sagt: „Also jetzt mache ich das schon zwei Jahre lang mit, ich halte dieses Versteckspiel nicht mehr aus.“ Oder ebenfalls ein Klassiker, ein Priester, der eigentlich bisher mit dem Zölibat wenige Probleme hatte, kommt in eine neue Pfarrei und er verliebt sich in die Pastoralreferentin oder in den Kaplan oder in ein Gemeindemitglied. Die Angst vor Aufdeckung ist ebenso ein ständiger Begleiter und die Selbstbefriedigung ist natürlich auch häufig Thema.
Welche Ratschläge geben Sie da?
Reich: Es kommt darauf an, was für ein Problemkreis vorliegt. Es ist etwas anderes, wenn jemand schon über Jahre eine heimliche Beziehung führt, vielleicht sogar inzwischen mit Nachwuchs oder ob jemand zum ersten Mal mit einer Situation konfrontiert wird, mit der er geistlich und emotional nicht umgehen kann. Oder ob jemand sexuelle Seiten an sich entdeckt, die ihm oder ihr Angst machen, ohne dass dies heißt, dass eine andere Person betroffen ist, Stichwort Masturbation. Das sind natürlich völlig verschiedene Paar Schuhe.
Weil man dann vielleicht beim ersten Mal nicht gleich bis zum letzten Schritt gehen und das Amt niederlegen will?
Reich: Genau, da sind dann vielleicht junge Kapläne, die ihre erste Stelle antreten, aber dann merken: Es gibt doch noch irgendwie mehr als nur Messe, Maiandacht und Pfarrgemeinderatssitzung. Das ist der Praxisschock, der sich manchmal in sexueller Verunsicherung niederschlägt. Eine Zölibatskrise kann sich aber auch jahrelang hinziehen. Die Idee in der katholischen Kirche ist dann meist, man geht zu einem geistlichen Begleiter oder bearbeitet das in der Beichte. Aber der vorgegebene sakramentale Rahmen der Beichte fokussiert natürlich auf metaphysische Schuld, die man auf sich geladen hat. Und die Antworten des Beichtvaters sind meist sehr stereotyp und helfen oft nicht weiter. Aus Scham wird dieses Forum ohnehin von vielen Geistlichen generell gemieden.
---Trennung _Gibt es Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Klienten?_ Trennung---
Wie ist das bei einem geistlichen Begleiter?
Reich: Da geht es eher um eine allgemeine geistliche Beratung und Unterstützung. Allerdings ist meine Erfahrung die, dass diese wenig bis keine Kompetenz haben, über sexuelle Themen zu sprechen. Das heißt, meist wird ein sexuell motiviertes Problem dann dort auch nicht thematisiert, weil man für sich vorweggreift, dass das Gegenüber es nicht hören will, davon überfordert ist, aus Hilflosigkeit den moralischen Stab bricht und man sich und dem Gegenüber diese unerträgliche Peinlichkeit ersparen will. Zudem ist der Rahmen, in dem man kirchlicherseits damit umgehen kann, natürlich sehr eng: Was sollte ein geistlicher Begleiter oder Begleiterin dieser Person denn sagen, was sie nicht sowieso schon selber weiß? „Hören Sie auf zu masturbieren, beenden Sie Ihre Puffbesuche, trennen Sie sich von Ihrer heimlichen Geliebten…Sie wissen ja, das alles ist Sünde.“? Die die Handlungsoptionen sind gering und beschränken sich dann meistens auf aufmunternde Appelle, man müsste eben mehr beten, mehr beichten, mehr Sport machen, sich „mal was Gutes tun“, man solle sich mehr auf die Beziehung zu Jesus Christus einlassen. Es ist das, was ich gerne Pastorallyrik nenne. Es klingt richtig und gut, ist aber völlig nutzlos.
Wahrscheinlich wird da auch nie die Möglichkeit in Betracht gezogen rein theoretisch auszutreten aus dem Orden oder das Amt niederzulegen.
Reich: Das stimmt. Bei mir gibt es keine Denkverbote. Ich arbeite im Team, mit Kirchenrechtlern, Berufs-Coaches, Psychotherapeuten. Viele haben Panik, an Niederlegung des Amtes zu denken, weil sie sich eine Existenz außerhalb ihrer Position in der Kirche schwer vorstellen können. Es geht nicht darum, dass ich den Menschen empfehle auszutreten. Sondern es geht darum, genau hinzuschauen und gemeinsam alle Handlungsoptionen vorurteilsfrei zu durchdenken und zu prüfen.
Gibt es denn auch grundsätzliche Unterschiede zwischen männlichen und weibliche Klienten, die Sie beobachtet haben?
Reich: Es gibt wesentlich mehr Anfragen von männlichen, als von weiblichen Ratsuchenden. Dies liegt vermutlich daran, dass Priester ja meist als Pfarrer in Gemeinden tätig sind und einen öffentlichen Lebensstil führen. Ein anderer Aspekt ist, dass viele Ordensfrauen klausuriert sind, also in klösterlicher Abgeschiedenheit leben. Da haben sie weniger Möglichkeiten an Informationen zu gelangen und zu mir Kontakt aufzunehmen.
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Sie beschäftigen sich seit mehr als zehn Jahren mit Zölibatsberatung. Haben Sie da in dieser Zeit Veränderungen bemerkt, dass vielleicht offener gesprochen wird oder ist es immer noch ein so großes Tabu?
Reich: Ich glaube im Zuge des Missbrauchsskandals wurde bei kirchlichen Oberen und den kirchlichen Behörden klar, dass das Thema Sexualität und Zölibat auch unabhängig von dieser pathologischen Geschichte mit der Pädophilie, mehr Thema werden muss. Man versucht auch, soweit ich den Überblick habe, in der Seminar- und Priesterausbildung verstärkt das Thema Sexualität zu etablieren. Meines Erachtens hat sich aber substanziell nichts geändert. Das ist eher Kosmetik. Man kann dann guten Gewissens den Medien und der kritischen Öffentlichkeit gegenüber sagen: Ja, bei uns in der Priesterausbildung gibt es sogar drei Ausbildungseinheiten zum Thema Sexualität... Die Frequenz und Qualität ist, zumindest was ich so höre, von Diözese zu Diözese enorm unterschiedlich. Es gibt ja kaum einen Pool an „Experten“ aus eigenen Reihen, auf den die Kirche zurückgreifen könnte. Das sind meistens sehr bemühte Menschen, die sich da etwas angelesen haben, wenn man Glück hat, ist mal ein „weltlicher“ Psychiater oder Psychotherapeut darunter, an den das schmutzige Thema fachlich delegiert wird. Jedenfalls wird das alles nicht viel bringen.
Warum genau?
Reich: Kaum ein Priesterkandidat oder Ordensaspirant wird sich in so einem Rahmen persönlich öffnen und Probleme mit seiner Sexualität thematisieren, er würde ja den Ast absägen, auf dem er sitzt. Die Kirche hat ein sexualphobisches, generell systemisches Problem, das sie natürlich ableugnet und raffiniert individualisiert: Es ist immer der bedauernswerte Einzelne, der Fehler macht, sündigt und versagt, das theologische und kirchliche System ist nie dafür verantwortlich, so die Denkweise vieler Bischöfe. Meinem Dafürhalten wird etwas Zentrales in der theologischen Diskussion und öffentlichen Debatte ebenfalls nie ehrlich zusammengebracht: das Thema Unauflöslichkeit der Ehe und Zölibatsgesetz. Die Kirche muss das Zölibatsgesetz auch deshalb mit solcher Vehemenz aufrechterhalten, weil sie mit verheirateten Priestern und Bischöfen, deren Ehen scheitern könnten, ein theologisch kaum lösbares Problem hätte. Kirche nimmt also seit Jahrhunderten sehenden Auges in Kauf, dass ein Großteil ihrer zum Zölibat verpflichteten Leistungsträger an dieser Lebensform zerbricht, enorme Schwierigkeiten damit hat oder ein Doppelleben führt.
Weil das mehr nach sich zieht, als man auf den ersten Blick denkt?
Reich: Genau. Sie hören dies in öffentlichen Diskussionen über den Zölibat nie. Die Begründung ist immer scheinbar rein spirituell. Allerdings ist sie de facto banal und funktional: der Zölibatär lebende Mensch sei verfügbarer, flexibler einsetzbar, nur einer Sache verpflichtet, hätte mehr Zeit für andere… Natürlich hat Ehelosigkeit eine Begründung im Neuen Testament und eine sehr spirituelle Dimension. Dort ist sie aber ein Rat, ein Vorschlag für wenige, ich nenne sie die spirituell Hochbegabten. Die Kirche hat aber im 11. Jahrhundert ein Gesetz daraus gemacht. Auf der anderen Seite, ich arbeite ja ebenfalls als Paartherapeut mit kriselnden Zweierbeziehungen, da amüsiert mich fast die andere, sehr naive Haltung von vielen Wohlmeinenden, die man in Gesprächen über das Zölibat immer wieder hören kann: „Lasst die armen Priester doch heiraten!“ – als wäre die Ehe per se der Himmel auf Erden. Ich befürchte fast, dass es mehr Ehehöllen gibt. Darauf hat die Kirche – wegen der Unauflöslichkeit – ebenfalls keine substantielle Antwort. Anders wird ein Schuh draus: Es geht offensichtlich darum, dass die katholische Kirche nicht damit umgehen kann, wenn Biografien, wenn Lebensentwürfe sich modifizieren, korrigieren oder vielleicht auch „scheitern“. Diese strikte Realitätsverweigerung und das Fehlen an echter Güte sind der eigentliche Skandal und das zentrale Versagen der Institution Kirche.
Was erleben Priester, Ordensmänner und -frauen, die sich entschließen, ihr Amt niederzulegen?
Reich: Das ist etwas, was ich besonders traurig finde und mich jedes Mal betroffen macht. Ein "Weggehen in Anstand und Würde" ist kirchenoffiziell nicht vorgesehen. Überwiegend ist die Reaktion von Bischöfen oder Ordensoberen auch im 21. Jahrhundert nicht gerade übermäßig geprägt von einer Haltung des Respekts, sondern vom Charakter des Strafens. Der immer noch übliche, despektierliche Umgang mit Menschen, die teilweise Jahrzehnte ihres Lebens in den Dienst der Kirche bzw. einer Ordensgemeinschaft gestellt haben, und in der Regel auf eine respektable Arbeits- und Lebensleistung zurückblicken können, sich dann aber entschließen, einen neuen Lebensweg einzuschlagen, verletzt und desillusioniert. Auch viele Außenstehende sind geradezu geschockt, wie kirchenoffiziell Verantwortliche eine Kaltschnäuzigkeit, ein Desinteresse oder eine Härte an den Tag legen und wie eklatant sie oft sogar einfachen bürgerlichen Anstand und menschliche Empathie vermissen lassen. Die meisten Gemeinden sind da viel weiter.
Inwiefern?
Reich: Da gibt es oft viel Verständnis, Solidarität und Respektsbezeugungen. Dennoch ist das ist auch ein Hauptteil meiner Arbeit, diese Trauerbewältigung, die Jahre dauern kann. Sie haben ja nicht erwartet, dass der Bischof ihnen auf die Schulter klopft und sagt „ist ganz toll, dass du uns verlässt“. Sie haben aber einfach erwartet, dass es eine Form von Interesse, Anteilnahme und Respekt und vielleicht das ehrliche Angebot von praktischer Unterstützung gibt. All das ist selten.