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Region Ulm: Steinewerfer auf der A7 zerstört das Glück einer Familie

Region Ulm

Steinewerfer auf der A7 zerstört das Glück einer Familie

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    Der 25. September 2016, in den frühen Morgenstunden, auf der A7 bei Giengen: Polizei und Feuerwehr sichern die Unfallstelle, an der die Familie Öztürk verunglückt ist.
    Der 25. September 2016, in den frühen Morgenstunden, auf der A7 bei Giengen: Polizei und Feuerwehr sichern die Unfallstelle, an der die Familie Öztürk verunglückt ist. Foto: Dennis Straub/Feuerwehr Heidenheim/dpa

    Viele Autofahrern kennen dieses beklemmende Gefühl, wenn sie bei Dunkelheit unter einer Brücke durchfahren und sich oben Schatten bewegen. Es ist wie eine Urangst. Und sie kommt daher, dass es immer wieder Idioten gibt, die es aus Langeweile, Frust oder Erlebnishunger für eine gute Idee halten, Steine oder andere Gegenstände von einer Brücke auf Autos zu werfen, um dann zu beobachten, was passiert.

    Betonklotz auf der A7 führt zu schwerem Unfall

    Der Familie Öztürk aus Laupheim, gut 20 Kilometer von Neu-Ulm im Landkreis Biberach gelegen, ist Folgendes passiert: In der Nacht zum 25. September 2016 fährt sie von einer Hochzeitsfeier nach Hause. Es ist 1.30 Uhr, die A7 ist fast leer. Die Kinder schlafen auf der Rückbank. Auf Höhe von Giengen/Brenz taucht urplötzlich ein Hindernis auf. Zum Ausweichen ist es zu spät. Ein Knall. Der Vorderreifen platzt. Das Auto rast eine steile Böschung hoch, überschlägt sich mehrfach und kommt völlig zertrümmert auf dem Dach zum Liegen.

    Serdal Öztürk, 33, hängt kopfüber im Gurt. Er ist ohnmächtig. Als er aufwacht, ist sein erster Gedanke: „Meine Frau! Meine Kinder!“ Er blickt nach rechts. Gott sei Dank, seine Frau Deniz ist da. Sie ist nicht bei Bewusstsein, aber sie ist da. Er blickt nach hinten. Doch da sitzt niemand.

    Da stehen seine beiden Kinder: Tochter Nisa, 6, und Sohn Yusuf, damals 4. Sie sind bei dem Horrorunfall aus dem Auto geschleudert worden. Und das ist ihr Glück. Wie durch ein Wunder kommen sie mit Prellungen und Schürfwunden davon. „Sie hatten einen Schutzengel“, sagt Serdal Öztürk.

    Er rennt hinab zum Wagen und versucht, seiner Frau zu helfen. Trotz seiner Verletzungen funktioniert er „wie eine Maschine“. Erst als der Krankenwagen kommt, bricht Serdal Öztürk zusammen.

    37-Jähriger hat den Stein wohl absichtlich von einer Brücke geworfen

    Der Mann, der all das wahrscheinlich verursacht hat, muss sich ab heute vor Gericht verantworten. Jörg B., 37, aus dem Raum Heidenheim, soll in jener Nacht den zwölf Kilo schweren Betonpflasterstein von der Autobahnbrücke geworfen haben, auf den die Familie Öztürk gefahren ist. Nur vier Tage nach der Tat wird B. verhaftet. Das ist in doppelter Hinsicht ungewöhnlich: Oft werden solche Steinewerfer gar nicht ermittelt. Und wenn, dann nicht so schnell. DNA-Spuren an dem Betonklotz führen die Ermittler auf seine Spur. Und B.s DNA ist in der Datenbank gespeichert.

    Die Staatsanwaltschaft Ellwangen wirft ihm versuchten Mord vor. Die Ankläger argumentieren: B. habe gewusst, dass die Insassen eines Autos nicht mit einem solchen Anschlag rechnen würden. Er habe einen Unfall mit tödlichem Ausgang bewusst in Kauf genommen. Die

    Das Motiv des Mannes liegt völlig im Unklaren. Er gesteht zwar, sagt aber bei der Polizei aus, es sei „halt so passiert“. Ein Sachverständiger hat ihm eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit attestiert. B. ist offenkundig psychisch krank. Nach seiner Festnahme jedenfalls sitzt er zunächst in Untersuchungshaft und wird dann Mitte November in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.

    Heute trifft das Ehepaar Öztürk im Landgericht Ellwangen zum ersten Mal auf Jörg B. und erhofft sich Antworten auf die Frage nach dem Warum. Deniz Öztürk, 26, wird mit einem Krankentransport zum Gericht gebracht und von einer Pflegerin begleitet werden. Ein halbes Jahr nach dem Stein-Anschlag ist sie immer noch im Krankenhaus. Sie hatte keinen Schutzengel.

    Familie leidet unter dem Unfall - körperlich und seelisch

    Oder eigentlich doch. Denn es sah so aus, als würde sie die gravierenden Verletzungen nach dem Unfall nicht überleben. Deniz Öztürk hat es schlimm erwischt: Hals- und Brustwirbel gebrochen, Schädelbasisbruch, Hirnblutung. Tagelang ringt sie mit dem Tod. Der rechte Unterschenkel muss amputiert werden. Die Ärzte bereiten sie auf eine Querschnittslähmung vor. Doch sie kämpft sich mit der Hilfe ihrer Familie zurück ins Leben. Seit kurzem hat sie eine Prothese und lernt nun ganz langsam in der Klinik Schritt für Schritt das Gehen wieder.

    Serdal Öztürk muss stark sein für seine Kinder Yusuf und Nisa – und für seine Frau Deniz, die noch immer im Krankenhaus ist.
    Serdal Öztürk muss stark sein für seine Kinder Yusuf und Nisa – und für seine Frau Deniz, die noch immer im Krankenhaus ist. Foto: Barbara Braig

    Ihr Mann besucht sie täglich im Krankenhaus. „Seit dem 25. September hat es keinen Tag gegeben, an dem ich nicht bei ihr war“, erzählt Serdal Öztürk. „Wenn es ihr besser geht, geht es auch mir gut.“ Dabei verschweigt er, dass er selbst auch schwer verletzt worden ist: Becken, Knie und Rippen waren gebrochen. Bis heute hat er Schmerzen. Aber er verdrängt sie, denn es muss ja weitergehen. Seit sechs Wochen versucht er sich wieder in seine Arbeit bei Evobus in Neu-Ulm einzugliedern. Ab der kommenden Woche will er Vollzeit arbeiten. „Wir schauen nach vorne“, sagt Serdal Öztürk leise.

    Das klingt tapfer, aber der 33-Jährige leidet seelisch noch sehr unter den Folgen des Stein-Anschlags: „Ich denke jeden Tag an den Unfall und bin in Gedanken immer bei meiner Frau und meinen Kindern.“ Jeden Mittwoch ist „Psychologentag“ für ihn, Nisa und Yusuf. Die aufgeschlossenen und freundlichen Kinder lachen viel. Sie sind schon wenige Wochen nach dem Unfall wieder in die Schule und in den Kindergarten gegangen. Sie wirken unbeschwert – weil sie das Ausmaß dessen, was geschehen ist, wohl gar nicht recht erfassen. Die Eltern haben ihnen das amputierte Bein der Mutter erst sehr viel später gezeigt. In den ersten beiden Wochen nach dem Unfall durften sie ihre Mama gar nicht sehen, bis Deniz Öztürk die Intensivstation verlassen konnte. Eine furchtbare Zeit für die Familie. Serdal Öztürk kommen die Tränen, wenn er sagt: „Die Kinder vermissen die Mama bis heute sehr.“

    Unfallopfer bekommen viel Unterstützung

    Aber es gibt Hilfe und zwar so viel, wie Familie Öztürk nie für möglich gehalten hätte: „Es ist überwältigend“, sagt der Vater. Zuerst reist seine Schwiegermutter aus der Türkei an. Sie hilft bis heute im Haushalt und bei der Kinderbetreuung. Nachbarn, Bekannte und viele Menschen aus Laupheim, dem Ort, in dem Öztürk geboren ist, wollen die vier nach ihrem Schicksalsschlag unterstützen. Eine Menge Geld wird gesammelt, Dienstleistungen und Wertgegenstände zugunsten der Familie versteigert. Nisa und Yusuf bekommen Geschenke. „Mit all dem hätte ich nie gerechnet“, sagt der Vater. Auch die Bank, die Krankenkasse und die Behörden lobt er in den höchsten Tönen: „Das hat alles perfekt geklappt, wir sind sehr dankbar.“

    Familie Öztürk kann jede Hilfe brauchen. Bald nach dem Unfall flattern Rechnungen ins Haus: Abschleppdienst, Lagergebühren für das kaputte Auto. Tausende Euro. Die Mutter wird künftig ein Fahrzeug mit Automatik brauchen. Und vom Täter wird voraussichtlich nichts zu holen sein.

    Doch mit Spenden von mehr als 35.000 Euro wagen die Öztürks den Weg zurück ins Leben: Sie haben einen Bungalow gekauft, alles ebenerdig, ohne Hindernisse für die Mutter. Aber sie müssen das Bad und die Küche umbauen. Es werden also noch einige Monate vergehen, bis sie einziehen können. „Aber es wird wahrscheinlich auch noch einige Zeit dauern, bis meine Frau aus dem Krankenhaus darf, also passt das“, sagt Serdal Öztürk mit bemerkenswertem Optimismus.

    Der Prozess gegen den mutmaßlichen Steinewerfer kommt zu keinem günstigen Zeitpunkt. Eigentlich will Serdal Öztürk diesem Mann nur einmal in die Augen sehen, seine Aussage machen – und dann nichts mehr von dem Verfahren wissen. Nur eine „gerechte Strafe“ wünscht er sich, „so zehn bis fünfzehn Jahre Gefängnis“. Damit Jörg B. so etwas nicht noch einmal macht.

    Doch wird das alles auch so kommen? Es ist zu bezweifeln. Wenn die Gutachter einhellig zu dem Ergebnis gelangen, dass der 37-jährige Angeklagte psychisch krank ist, gilt er als vermindert oder nicht schuldfähig. Ins Gefängnis müsste er dann gar nicht, sondern bliebe in psychiatrischer Unterbringung und Therapie.

    Unfälle: Wenn Gegenstände auf der Autobahn landen

    Die Steinewerfer-Attacke auf der A7 im September ist kein Einzelfall. Immer wieder werden Gegenstände von Brücken auf fahrende Autos geworfen.

    August 2016 Eine 33-Jährige, die mit ihrer Familie in Dänemark unterwegs war, stirbt. Ein 30 Kilo schwerer Betonklotz hatte das Auto der Familie aus Recklinghausen getroffen. Der Mann wird schwer verletzt, das Kind bleibt unverletzt.

    August 2015 Ein Mann wirft auf der A 93 einen Gullydeckel von einer Brücke. Verletzt wird niemand.

    Oktober 2008 Ein 42-Jähriger schleudert ein 1,4 Kilo schweres Beil von einer Autobahnbrücke zwischen Barmstedt und Elmshorn. Die Waffe durchschlägt die Front eines Autos und verfehlt den Fahrer nur knapp. Der „Elmshorner Beilwerfer“ wird für nicht schuldfähig befunden. Ein Gutachter stellt eine paranoide Schizophrenie fest.

    März 2008 Entsetzen löste vor allem dieser Fall aus: Am Ostersonntag lässt ein Mann einen sechs Kilo schweren Holzblock von einer Autobahnbrücke bei Oldenburg fallen. Der Klotz durchschlägt die Windschutzscheibe eines Autos und tötet eine 25-Jährige vor den Augen ihres Mannes und der beiden Kinder. Der Täter, ein drogensüchtiger 31-Jähriger, wird wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.

    Februar 2000 Drei Jugendliche im Alter zwischen 15 und 18 Jahren werfen Steine von einer Fußgängerbrücke bei Darmstadt, darunter auch einen acht Kilo schweren Brocken und einen Pflasterstein. Zwei Frauen kommen ums Leben. Die Täter, alles Söhne amerikanischer Soldaten, erhalten Jugendstrafen zwischen sieben und achteinhalb Jahren.

    Dezember 1995 Zwei junge Männer kippen von verschiedenen Brücken Kühlschränke, Fernsehgeräte, Waschmaschinen und andere schwere Gegenstände auf die A 4 Köln-Olpe. Es bleibt bei Sachschäden. Das Duo wird zu drei Jahren Haft verurteilt.

    Februar 1995 Ein 20-Jähriger wirft von einer Brücke in Brandenburg einen 20 Kilo schweren Feldstein auf einen Lastwagen und tötet den Beifahrer. Der Täter muss acht Jahre in Jugendhaft. (sok)

    Andererseits muss es in dem Prozess in Ellwangen auch um eine entscheidende Frage gehen: Wie gefährlich ist Jörg B.? Denn dieser Mann hat eine vielsagende kriminelle und psychiatrische Vorgeschichte. Das letzte Gutachten über ihn zum Beispiel stammt aus einem Prozess im Jahr 2013. Damals geht es vordergründig um illegalen Waffenbesitz. Aber auch um einen Vorfall, der viel über Jörg B. aussagt: Er hatte im Wald mit selbst gebastelten Waffen Schießübungen gemacht, als ein Polizist und Jäger ihn entdeckt. Der fragt, was das solle. B. entgegnet ohne jede Gefühlsregung: „Entweder du gehst und vergisst das hier, oder ich leg dich um.“ Das Gericht steckt B. allerdings nicht in die Psychiatrie, sondern verhängt eine Bewährungsstrafe.

    Vielleicht hätte das Betonklotz-Attentat auf die Familie also verhindert werden können. Über all das will Serdal Öztürk aber nicht sprechen. Er empfinde auch keinen Hass auf Jörg B. „Ich kenne diesen Typen ja gar nicht, ich kann ihn also nicht hassen“, sagt er. Große Wut auf Jörg B. spüre er schon. Er will sich aber auf sein neues Leben konzentrieren und gar nicht allzu sehr mit jenem Mann beschäftigen, der sein altes Leben kaputt gemacht hat.

    Serdal Öztürk braucht all seine Kraft, um für seine Frau und seine Kinder da zu sein. Er glaubt, dass alles, was geschieht, im „Buch des Lebens“ schon vorgeschrieben ist. Und dieses Buch will der Familienvater unbedingt zu einem glücklichen Ende führen.

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