Der Pharmakonzern AstraZeneca hat die klinische Studie für seinen vielversprechenden Corona-Impfstoff vorsorglich gestoppt.
Bei einem Teilnehmer aus Großbritannien waren gesundheitliche Probleme aufgetreten. Das sei eine Routinemaßnahme für solche Fälle, teilte das britisch-schwedische Unternehmen mit. "In großen Versuchsreihen treten Erkrankungen zufällig auf, müssen aber von unabhängiger Seite untersucht werden, um das gründlich zu überprüfen."
Das Mittel zählt bisher zu den aussichtsreichen Kandidaten unter den potenziellen Corona-Impfstoffen. Viele Länder, auch Deutschland, haben mit dem Konzern Verträge über insgesamt Milliarden Dosen abgeschlossen. Während des Stopps sollen nun vorerst keine weiteren Probanden geimpft und bisher geimpfte Personen weiter beobachtet werden. AstraZeneca werde die Untersuchung des Falls beschleunigen, damit sich das Zulassungsverfahren für den Impfstoff so wenig wie möglich verzögere, hieß es vom Unternehmen.
Ein solcher vorläufiger Studienstopp sei "nicht ungewöhnlich", sagte der US-Immunologe Anthony Fauci, der auch als Berater der US-Regierung tätig ist, dem TV-Sender CBS. "Das ist eines dieser Sicherheitsventile, die man bei klinischen Studien wie dieser hat." Stephan Becker, Direktor des Instituts für Virologie an der Philipps-Universität Marburg, lobte, das transparente Vorgehen sei ein Zeichen der funktionierenden Qualitätskontrolle.
Bei der Überprüfung des Falls geht es nun darum festzustellen, ob die gesundheitlichen Probleme des Studienteilnehmers vom Impfstoff ausgelöst wurden. AstraZeneca machte keine Angaben zu der Erkrankung. Die "New York Times" berichtete unter Berufung auf eine informierte Person, dass es sich um eine Transverse Myelitis handele. Diese sehr seltene Erkrankung entwickelt sich häufig in Zusammenhang mit Infektionen. Der AstraZeneca-Wirkstoff AZD1222 beruht auf der abgeschwächten Version eines Erkältungsvirus von Schimpansen.
Ein möglicher Auslöser einer solchen Myelitis seien vermutlich Kreuzreaktionen von Virusantigenen mit körpereigenen Strukturen - zum Beispiel bei einer Gelbfieberimpfung, erklärte der Infektiologe Bernd Salzberger vom Universitätsklinikum Regensburg. "Insofern werden solche Signale bei Impfstudien sicher sehr ernst genommen und müssen aufgeklärt werden. Im besten Fall hatte der Proband eine parallele Virusinfektion, die das Krankheitsbild verursacht hat und nicht die Impfung." Symptome seien je nach Befall im Rückenmark meist akute Lähmungserscheinungen oder Gefühlsstörungen. Auch wenn sich eine Myelitis in vielen Fällen zurückbilde, sei sie ein sehr ernstzunehmendes Syndrom.
Der AstraZeneca-Impfstoff befindet sich unter anderem in den USA und Brasilien in der dritten, abschließenden Studien-Phase mit mehreren Zehntausend Teilnehmern. Das Mittel wirkt zweifach: Es soll sowohl die Bildung von spezifischen Antikörpern als auch von T-Zellen fördern - beide sind für die Immunabwehr wichtig.
International gibt es ein beispielloses Rennen von Pharmaunternehmen um marktreife Corona-Impfstoffe, viele Kandidaten befinden sich bereits in klinischen Prüfungen. Der Direktor der britischen Stiftung Wellcome Trust, Jeremy Farrar, warnte vor zu großen Hoffnungen: "Die ersten Impfstoffe werden nicht perfekt sein - und sie sollten zunächst nur jenen 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung angeboten werden, die am meisten gefährdet sind, inklusive Mitarbeitern im Gesundheitsbereich." Die Stiftung fördert die medizinische Forschung.
AstraZeneca und acht weitere Pharma- und Biotech-Unternehmen hatten erst am Dienstag versichert, dass sie bei der Entwicklung eines Corona-Impfstoffs keine Kompromisse bei der Sicherheit machen werden. Dieser ungewöhnliche Schritt folgte mit Blick auf Bedenken, dass es vor allem in den USA politischen Druck zwecks einer Eil-Zulassung erster Impfstoffe vor der Präsidentenwahl am 3. November geben könnte. US-Präsident Donald Trump erklärte zuletzt immer wieder, dass es vielleicht schon bis zur Wahl einen Impfstoff geben werde.
EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides stellte klar, dass Sicherheit und Wirksamkeit der Impfstoffe oberstes Gebot seien. Impfstoff-Kandidaten müssten die Anforderungen der europäischen Zulassungsbehörde EMA erfüllen. "Es ist klar, dass ein Impfstoff nicht in der EU zugelassen wird, wenn ernste Nebenwirkungen entdeckt werden", sagte Kyriakides. "Die Sicherheit der Bürger hat höchste Priorität."
Viele Länder und auch die EU-Kommission versuchen schon jetzt, Impfstoffe für sich zu sichern. So vereinbarte die Kommission gerade mit der Mainzer Firma Biontech die mögliche Lieferung von bis zu 300 Millionen Einheiten. Im Idealfall sollen noch vor Jahresende die ersten Impfstoff-Dosen in Europa verfügbar sein, wie das Unternehmen mitteilte. Voraussetzung ist der erfolgreiche Abschluss von Tests und die Zulassung des Impfstoffs, die der Hersteller bereits im Oktober beantragen will.
Die EU-Kommission verfolgt die Strategie, mit möglichst vielen Pharmafirmen Vorverträge abzuschließen, um bei einem erfolgreichen Impfstoff rasch Zugriff zu haben. Die Brüsseler Behörde hat schon mit sechs Herstellern entsprechende Gespräche geführt. Mit dem Biontech-Konkurrenten AstraZeneca gibt es bereits einen Vertrag über die Lieferung von bis zu 400 Millionen Impfstoff-Dosen.
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Faktenblatt vom Science Media Center
WHO-Übersicht über Impfstoffkandidaten