Acht Jahre Haft und Sicherungsverwahrung: Das steht am Ende des Prozesses um den neuen Staufener Missbrauchsfall, den das Landgericht Freiburg im Rekordtempo geführt hat. Erst Mitte Januar hatte das Verfahren begonnen, nun fiel das Urteil für den 42-Jährigen Christian L. Der Angeklagte erhebt sich bei der Urteilsverkündung in seiner dunkelblauen Fleecejacke da, die er fast bei jedem Verhandlungstag getragen hat. Sein Haar wirkt ungepflegt, er ist nicht rasiert. Der Mann wirkt noch gebrechlicher als zu Beginn der Verhandlung.
Es ist die Strafe für Kindesmissbrauch in 111 Fällen, schweren Kindesmissbrauch in 13 Fällen, einer davon im Zusammenhang mit gefährlicher Körperverletzung. Vier Jungen im Alter von neun bis 14 Jahren sind ihm in einem Zeitraum von 2011 bis 2018 zum Opfer gefallen. Das alles geschah in Staufen, einem kleinen Ort mit 8000 Einwohnern, wo Christian L. lebte und arbeitete und sich bei der Pfadfindergruppe der evangelischen Kirchengemeinde engagierte. Seine Opfer suchte er sich in der Gruppe, die er leitetet. In der Familie seiner vermeintlichen Partnerin, als netter Bekannter auf dem Campingplatz, der gut mit Kindern kann.
Kindesmissbrauch in Staufen: Leiter der Pfadfinder schuldig in 124 Fällen
124 Fälle. Das klingt nach viel. Dabei ist die hohe Zahl nur ein Bruchteil dessen, was die Staatsanwaltschaft ursprünglich zur Anklage brachte: 696 Fälle hatte Staatsanwältin Nikola Novak erhoben, das Gericht ließ aber nur 330 Fälle zu, weil sich viele nicht mehr genau nachweisen ließen. In der Urteilsfindung hat das Gericht die Zahl noch weiter reduziert: Die nun festgestellte Zahl der Taten sei aber eindeutig nachweisbar, betonte der Vorsitzende Richter.
Noch einmal skizzierte er, wie perfide sich Christian L. das Vertrauen der Kinder erschlich. "Er hat eine große emotionale Nähe zu den Kindern hergestellt", sagt der Richter – als Patenonkel, Pfadfinderbetreuer, Partner der Mutter, netter Bekannter im Campingurlaub. Diese Nähe habe bewirkt, dass die Kinder wahrscheinlich schweigen würden. "Sexuelle Handlungen wurden spielerisch angebahnt", zudem vermittelte L. den Kindern, dass das Vorgehen normal sei. Gleichzeitig redete L. den Kindern ein, sie hätten es selbst gewollt, trügen also eine Mitverantwortung. Später verhinderten Scham und das Gefühl, irgendwie selbst schuld zu sein, dass sich die Jungen jemandem anvertrauten. Ohne Tim (Name geändert), der durch die Berichte über den ersten Staufener Missbrauchsfall und einen Krimifilm, der von Kindesmissbrauch handelte, erst begriff, was ihm selbst zugestoßen war und Anzeige erstattete, wären die übrigen Fälle womöglich nie aufgeklärt worden. Die Ermittlungen, die auf seine Anzeige folgten, führten schließlich zu den weiteren Betroffenen. Und nach wie vor vermutet die Staatsanwaltschaft, dass es weitere Opfer gegeben hat.
Angeklagter sagt selbst, er sei unsicher, ob er sich "zurückhalten" könne
Der psychiatrische Gutachter hatte bei Christian L. "eine homosexuelle Pädophilie in Hauptströmung" festgestellt: Das bedeutet, dass das sexuelle Interesse des 42-Jährigen ausschließlich auf Jungen im vorpubertären Alter gerichtet ist. Seiner Expertise nach habe L. keinerlei Interesse an sexuellem Kontakt mit Erwachsenen. Vielmehr sei die Neigung "biografisch stabil" – also unabänderlich. Christian L. wird auch künftig Jungen vor ihrer Pubertät anziehend finden. "Für seine Pädophilie kann er nichts, möglicherweise leidet er selbst darunter", sagt der Richter. Doch genau deshalb und wegen der Vielzahl der Taten, sei er eine Gefahr für andere Kinder. Vor Gericht habe Christian L. dann selbst Unsicherheit geäußert, ob er sich "zurückhalten" könne.
Zum Schluss spricht der Richter ihn direkt an: "Ich weiß, dass das eine sehr hohe Strafe ist", beginnt er. Christian L. nickt. "Aber sie ist notwendig", so der Richter. Wieder nickt L. "Auch die Sicherungsverwahrung." Wieder ein Nicken. Der Mann, der die Urteilsverkündigung bisher nahezu regungslos über sich ergehen hat lassen, scheint auf einmal berührt angesichts der persönlichen Ansprache.
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