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Pandemie: Wer ist schuld an den Corona-Toten von Bergamo?

Pandemie

Wer ist schuld an den Corona-Toten von Bergamo?

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    Rund 6000 Menschen sollen allein in der Provinz Bergamo am Coronavirus gestorben ein.
    Rund 6000 Menschen sollen allein in der Provinz Bergamo am Coronavirus gestorben ein. Foto: Antonio Calanni, dpa

    Am Ende hielt Cristina Longhini einen schwarzen Plastiksack in der Hand. Darin befanden sich die Kleider und letzten Habseligkeiten ihres Vaters Claudio, auch ein Hemd mit einem großen Blutfleck, wie die 39-Jährige erzählt. Ihr Vater war 65 Jahre alt, hatte leichte Diabetes, war aber sonst nach Auskunft der Familie bei guter Gesundheit. Und doch starb er am 19. März im Krankenhaus von Bergamo. Diagnose: Covid-19.

    Rund 6000 Menschen sollen allein in der Provinz Bergamo am Coronavirus gestorben sein, rund 34.000 in Italien – nach offiziellen Angaben. Und inzwischen stellen sich immer mehr Fragen dazu. Mussten so viele Menschen sterben? Hätten die Behörden, Gesundheitsämter, Politiker in Norditalien anders handeln und damit zahlreiche Familiendramen verhindern können? Cristina Longhini ergriff mit Familienangehörigen die Initiative. Sie gründeten die Opfervereinigung „Noi denunceremo“ (Wir zeigen an). „Wir wollen Aufklärung“, sagt sie. „Wir wollen die Wahrheit.“ An finanziellen Entschädigungen sei man nicht interessiert. 50 Anzeigen aus Bergamo gingen bereits bei der örtlichen Staatsanwaltschaft ein, im ganzen Land sind es etwa 200.

    50 Anzeigen gingen allein bei der Staatsanwaltschaft Bergamo ein

    Oberstaatsanwältin Maria Cristina Rota leitet die Ermittlungen, unter anderem wegen fahrlässiger Tötung. Ermittelt wird – noch – gegen unbekannt. Die Ermittler interessiert etwa die Frage, warum das Krankenhaus von Alzano Lombardo bei Bergamo zum Infektionsherd wurde und warum eine mehrstündige Sperrung der Notaufnahme aufgehoben wurde. Am 23. Februar wurden dort zwei Covid-19-Fälle bekannt. Vor allem geht es um die nie erfolgte Einrichtung einer Sperrzone in den Gemeinden Alzano Lombardo und Nembro, den beiden Orten bei Bergamo, die zum Hauptinfektionsherd in Italien wurden.

    Als Zeugen befragten die Ermittler in der vergangenen Woche Ministerpräsident Giuseppe Conte, Gesundheitsminister Roberto Speranza sowie Innenministerin Luciana Lamorgese. Insbesondere die Frage, warum vom 3. März an 370 Soldaten des italienischen Militärs in die Provinz verlegt, aber nicht eingesetzt wurden, interessierte die Ermittler. Zur Einrichtung einer Sperrzone um Bergamo, die möglicherweise eine weitere Verbreitung des Virus verhindern hätte können, kam es nie.

    In der südlichen Lombardei hatte die Zentralregierung in Abstimmung mit lokalen Behörden am 23. Februar eine Sperrzone um zehn Gemeinden verhängt, darunter Codogno, wo der erste Corona-Fall in Italien zwei Tage zuvor bekannt geworden war. In Bergamo hingegen vergingen zwei Wochen ohne Maßnahmen. Erst am 8. März wurde die gesamte Region Lombardei zur „roten Zone“ erklärt. Zwei Tage danach verhängte die Regierung die Quarantäne über ganz Italien.

    Verhinderten wirtschaftliche Erwägungen die Einrichtung einer Sperrzone?

    In der Provinz Bergamo, die europaweit eine der am stärksten von der Pandemie betroffenen Gegenden ist, konnte das Virus also zwei Wochen lang ungehindert zirkulieren. Von der Staatsanwaltschaft befragt wurden auch der Präsident der Lombardei, Attilio Fontana, sowie Giulio Gallera von der rechten Lega. Beide schoben die Verantwortung auf die Links-Regierung in Rom ab. Diese erwiderte, die Regionalbehörden in Mailand hätten selbstständig eine Sperrzone verhängen können.

    Einer der Gründe, der die Politiker von der Einrichtung einer Sperrzone in Alzano Lombardo und Nembro abgehalten haben könnte, ist die Sorge vor den wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns. Die Provinz Bergamo ist eine der produktivsten Zonen Italiens, knapp 400 mittlere und große Unternehmen haben hier ihren Sitz. Bergamos Bürgermeister Giorgio Gori rief Ende Februar dazu auf, „mit Intelligenz weiterzumachen“. Der lokale Industriellenverband produzierte ein Video mit dem Titel „Bergamo is running“ (Bergamo läuft weiter), um Geschäftspartner zu beruhigen. Marco Bonometti, Präsident des Industriellenverbandes Confindustria in der Lombardei, gestand: „Wir waren gegen einen Lockdown.“

    Sollten am Ende also wirtschaftliche Gründe den Ausschlag gegeben haben? Cristina Longhini will es wissen. Sie fordert Gerechtigkeit.

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