Viel ist in den vergangenen Tagen und Wochen darüber spekuliert worden, ob die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus nicht überzogen sind und waren. Ob ihre Konsequenzen nicht schlimmer sein könnten als die eigentliche Pandemie. Was richten Abstandsregeln und Kontaktsperren langfristig an? Und sind die wirtschaftlichen Folgen dieser Maßnahmen auch nur ansatzweise zu ermessen?
Ärzte in den Kliniken und Praxen stellen jedenfalls schon jetzt massive Folgen der Corona-Krise fest. Folgen, die vor allem aus der Angst der Patienten resultieren. Weil sie sich zum Beispiel nicht mehr zum Arzt oder ins Krankenhaus trauen, um sich nicht mit dem Coronavirus zu infizieren. Von regelrechten Martyrien hinter verschlossenen Haustüren ist die Rede. Doch was ist damit eigentlich genau gemeint?
Antworten darauf kennt Dr. Markus Wehler. Er ist Direktor der Zentralen Notaufnahme an der Uni-Klinik Augsburg – früher hätte man Chefarzt gesagt. „Es gibt Folgen des sogenannten Shutdowns, die man auf den ersten Blick nicht sieht“, sagt er, und nennt ein Beispiel: „Bei uns in der Notaufnahme spielen Wohnungsöffnungen eine gewisse Rolle.“
Die Corona-Angst geht um: Ärzte sind besorgt
Wenn ein alleinstehender Senior in seiner Wohnung stürze oder einen Infarkt erleide, dann dauere es in der städtisch geprägten Region Augsburg etwa 24 bis 48 Stunden, bis das jemandem auffalle und Hilfe geholt werde, erläutert Wehler. „In den vergangenen Wochen haben wir in dieser Hinsicht eine Veränderung gespürt. Die Menschen sind vorsichtig, schotten sich ab“, erzählt er. „Wenn man den Nachbarn nicht sieht, ist das in diesen Tagen erst einmal nichts Besonderes.“ Doch die vom Rettungsdienst geborgenen Menschen liegen teilweise fünf, sechs oder sieben Tage hilflos in ihren Wohnungen. „Das muss man sich mal vorstellen.“
Ein regelrechtes Martyrium also. Mit Schmerzen, Hoffnungslosigkeit, maximaler Hilflosigkeit, ohne Essen und Trinken, ohne auf die Toilette gehen zu können. Allein die Vorstellung daran, ist kaum auszuhalten. „Dabei kann man etwa den Nachbarn ja keine Vorwürfe machen“, sagt Wehler, und kommt nun zum Thema Angst. „Viele gingen aus Angst nicht mehr in die Kliniken. Das konnten wir auch bei uns gut beobachten“, erklärt er.
Der Tiefpunkt sei Ende März gewesen, als die Notaufnahme rund 40 Prozent weniger Patienten als üblich gezählt habe. Statt 1800 Patienten kamen plötzlich nur noch 1000 pro Woche. „Dieses Phänomen kennt man schon von früheren Seuchen wie etwa Sars. Auch Angehörige, selbst manche Hausärzte, raten Patienten vor dem Gang in die Notaufnahme ab.“ Für Wehler tragen auch sensationsheischende Schlagzeilen mancher Medien dazu bei.
Umgang mancher Medien mit dem Coronavirus besorgt Mediziner
Das Klinikum Mindelheim im Unterallgäu ist deutlich kleiner als die Uni-Klinik Augsburg. Es ist Teil des Klinik-Verbundes Allgäu, dem die Häuser in Ottobeuren, Kempten, Immenstadt, Sonthofen und Oberstdorf angehören. Aber der Aspekt Corona-Ängste und Medien ist auch in Mindelheim ein großes Thema. Dr. Manfred Nuscheler, Ärztlicher Direktor der Klinik und seit 2003 Chefarzt der Mindelheimer Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin, ist ein freundlicher Mann. Doch derzeit kursierende Berichte, die Patienten Angst machen und ihnen suggerieren würden, dass man angeblich nicht an einer Infektion mit dem Coronavirus, sondern an der Behandlung – der Beatmung – sterben würde, verärgern ihn sichtlich.
„Selbst eine eigentlich seriöse Sendung wie das WDR-Fernsehmagazin ’Monitor’ befeuert das“, sagt der 58-Jährige besorgt. Schaut man sich den zwölfminütigen Beitrag an, bekommt man tatsächlich schnell das Gefühl, als würden Intensivmediziner bei jedem Covid-19-Patienten viel zu schnell einen Tubus einführen, obwohl eine Beatmung für die Lunge sehr anstrengend und sogar schädigend sein kann. Und man könnte wirklich auch meinen, dass so mancher Patient an der Beatmung stirbt.
Für Nuscheler vertauschen die Macher des Beitrages hier Ursache und Wirkung. „Es wird hier so getan, als sei der Tubus der Tod.“ Kein Intensivmediziner habe aber ein Interesse daran, einen Patienten zu intubieren, wenn das nicht sein müsse. „Wir probieren so lange es geht, die Betreffenden eben nicht zu intubieren.“ Das Thema bewegt den Arzt. Die Intubation sei bei sehr schwer betroffenen Corona-Kranken oft das letzte Mittel, irgendwie doch noch Sauerstoff in den Patienten hinein zu bekommen, betont er.
Wie gefährlich sind Beatmungen - und wie oft kommen sie vor?
Nochmals die „Monitor“-Sendung. In ihr werden Zahlen aus New York genannt, nach denen 88 Prozent der invasiv beatmeten Patienten sterben; nach Zahlen aus Großbritannien sind es 66,3 Prozent; nach frühen chinesischen Studien aus Wuhan 97 Prozent. Es sind alarmierende Zahlen. Zahlen, die Ängste auslösen können. Doch wie sind sie zu bewerten?
Die Münchner Uni-Klinik in Großhadern jedenfalls teilt auf Anfrage andere Werte mit. Demnach wurden dort seit dem 4. März insgesamt 63 Covid-19-Patienten in der Intensivmedizin behandelt, 61 davon mussten beatmet werden. Davon wiederum seien acht Patienten gestorben – drei von ihnen nicht an der neuartigen Lungenkrankheit Covid-19, sondern an Herzerkrankungen und Krebs. Bleiben fünf Corona-Patienten, die beatmet wurden und starben, knapp über acht Prozent. Zumindest diese Zahlen dürften weitaus weniger dazu geeignet sein, Menschen Angst zu machen.
Ein großer Teil der verbreiteten Angst rührt auch daher, dass es Krankenhäuser mit Corona-Ausbrüchen gab – wie etwa die Potsdamer Ernst von Bergmann-Klinik. Doch Krankenhäuser haben reagiert und ihre Schutzmaßnahmen im Zuge der Krise weiter verfeinert. Wie die Uni-Klinik in Ulm. „Wir machen einen Abstrich grundsätzlich von jedem Patienten“, sagt Dr. Johannes Peifer, Facharzt für Anästhesie der zentralen interdisziplinären Notaufnahme. Die Patienten kämen dann in eine Art Auffangstation, erklärt er. Dort warten sie auf das Ergebnis des Abstrichs. „Da wir Virologen im Haus haben, geht das bei uns recht schnell. In vier bis acht Stunden liegt der Befund vor.“ Ist er positiv, geht es für den Patienten auf eine eigens dafür vorgehaltene Corona-Station.
Corona-Krise: "Tendenzielle Zunahme von Zwangs- und Angsterkrankungen“
Doch dieses Prozedere hat sich noch nicht überall herumgesprochen. „Wir haben immer wieder Patienten bekommen, die mit schweren Befunden zu Hause geblieben sind – trotz teils sicher erheblicher Schmerzen“, sagt Peifer. Er erinnert sich an einen älteren Mann, der eine Woche mit starken Bauchschmerzen zu Hause blieb. Wie sich herausstellte, war die Gallenblase geplatzt, es kam zu einer Sepsis. Ähnliches lasse sich über Menschen mit Herzinfarkten und Schlaganfällen berichten. Dabei gebe es bei diesen beiden Erkrankungen nur ein Zeitfenster von vier bis sechs Stunden, um Langzeitschäden möglichst zu verhindern.
Wie viele Spätschäden durch Corona-Angst entstehen, könne man seriös nicht beantworten, sagt Peifer. Das müsse in Studien über Monate hinweg aufgearbeitet werden. Doch auch das sind dann Folgen der Pandemie – die mit ihr mehr oder minder direkt in Verbindung stehen. Und die erst sehr viel später einmal auffallen dürften, etwa in Statistiken zur Lebenserwartung. Nur ein Fallbeispiel: Wenn das Herz durch einen Infarkt schwer geschädigt wird und der Patient ohne ärztliche Behandlung durch eine sogenannte Defektheilung zwar überlebt – aber zum Beispiel Teile des Herzmuskels absterben.
Auch auf einem ganz anderen medizinischen Gebiet zeitigt die Corona-Angst ihre Folgen: der psychiatrischen Versorgung. „Wir sehen eine tendenzielle Zunahme von Zwangs- und Angsterkrankungen“, sagt Dr. Albert Putzhammer, Ärztlicher Direktor der Bezirksklinik Kaufbeuren. Er sagt, dass das permanente Händewaschen und -desinfizieren Zwänge stärken könne. „Aber am schnellsten war unsere Suchtabteilung wieder voll“, hat er beobachtet. „Die Menschen spüren Bedrohung, auch wirtschaftlicher Natur. Der Lockdown führt bei manchen zum Verlust der Tagesstruktur. Das alles kann Alkoholsucht wie auch die Sucht nach anderen Drogen befördern und überdies Rückfälle auslösen.“ Ein Anstieg der Suizidzahlen sei derzeit zum Glück noch nicht zu beobachten. Aber das bedeute nicht, dass das so bleibe. Zumal der Verlust wirtschaftlicher Sicherheit Depressionen auslösen könne.
Mit dem Lockdown verstärkt sich auch die Suchtgefährdung
Nicht weit von der Kaufbeurer Bezirksklinik betreibt der Allgemeinmediziner Dr. Rochus Höhne seit rund 20 Jahren mit Kollegen eine Gemeinschaftspraxis. Er stellt fest, dass die Patientenzahlen zurzeit nicht nur in den Kliniken, sondern auch im Bereich der niedergelassenen Ärzte allmählich wieder ansteigen. „Teilweise hatten wir statt 40 bis 50 nur noch fünf bis sechs Patienten am Tag“, sagt der 52-Jährige. Die Diagnostik per Telefon – fernmündliches Krankschreiben ist noch bis zum 31. Mai erlaubt – habe ihm manchmal Unbehagen bereitet. Gerade, wenn er Antibiotika verordnen habe müssen. Er sei froh, dass diese Fälle jetzt seltener würden und die Patienten wieder in die Praxisräume kämen. Dabei entstehen fast schon skurrile Situationen: Manche Patienten, die sich unsicher sind, rufen in der Praxis an – obwohl sie direkt vor der Türe stehen. „Dann kann sich das Praxispersonal aber schnell draußen ein Bild von der Situation und dem Patienten machen“, sagt Höhne.
„Dabei dürfte die Gefahr, sich in einer Arztpraxis anzustecken, inzwischen sehr gering sein“, ergänzt Dr. Jakob Berger, Sprecher der Hausärzte in Bayerisch-Schwaben. Zumal auch Hausarztpraxen endlich mit ausreichend Schutzkleidung ausgestattet seien. Dass Patienten aus Angst seltener kamen, hat auch er bemerkt. Angst allerdings ist für ihn ein schlechter Ratgeber. Für Berger, der eine Praxis in Herbertshofen bei Augsburg hat, ist das Immunsystem Dreh- und Angelpunkt, um sich gegen Corona zu wappnen. „Man weiß inzwischen, dass auch viele alte Menschen positiv auf das Virus getestet wurden, aber keinerlei Symptome hatten. Das hat sicher auch mit einem guten Immunsystem zu tun.“ Und das kann in seiner Stärke sehr schwanken: „Nach einem Marathon hat ein Läufer für die ersten paar Stunden nach dem Lauf ein Immunsystem wie ein Mensch, der an HIV erkrankt ist.“ Geschwächt wird es im Normalfall durch Rauchen, schlechte Ernährung, wenig Bewegung, Schlafmangel und vor allem durch Stress.
Zwar gibt es noch keine Medikamente gegen Corona. „Aber sein Immunsystem kann jeder selbst beeinflussen“, sagt Berger. Und das ist ein Mittel gegen die Corona-Angst.
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