Oscar Pistorius hat seine Karriere einst mithilfe von zwei PR-Agenturen akribisch geplant. Seine Strategen achteten darauf, dass Skandale das strahlende Image des an den Unterschenkeln amputierten Stars nicht trübten. Und so beobachteten die Südafrikaner umso gebannter die Enttarnung ihres einstigen Helden, der mit seiner Teilnahme an den Olympischen Spielen 2012 die Grenzen des paralympischen Sports gesprengt hatte.
Die Freundin mit Absicht erschossen?
Denn der sechs Monate andauernde Mordprozess gegen Pistorius drehte sich nicht um den Nachweis, ob er seine Freundin Reeva Steenkamp erschossen hat, sondern um die Frage, ob das mit Absicht geschah. Ein wichtiger Bestandteil dieses Unterfangens war die Glaubwürdigkeit seiner Aussage und damit sein Charakter. Für Pistorius bedeutete das einen beispiellosen Striptease seines Privatlebens. Der spektakuläre Prozess am High Court in Pretoria erreicht nun am Donnerstag mit der Urteilsverkündung von Richterin Thokozile Masipa die entscheidende Phase.
Das ist Oscar Pistorius
Geburtsdatum: 22. November 1986
Geburtsort: Sandton/Südafrika
Behinderung: Pistorius wird durch einen Gendefekt ohne Wadenbeine und äußere Fußseiten geboren. Im Alter von elf Monaten werden ihm beide Beine unterhalb der Knie amputiert.
Größte Erfolge: - Paralympics 2004 in Athen Gold über 200 m, Bronze über 100 m; - Paralympics 2008 in Peking Gold über 100, 200 und 400 m; - Paralympics 2012 in London Gold über 400 und 4 x 100 m, Silber über 200 m Weltmeisterschaften 2011 in Daegu Halbfinale über 400 m Olympische Spiele 2012 in London Halbfinale über 400 m
Wichtige Entscheidungen: 14. Januar 2008: Der Leichtathletik-Weltverband IAAF entscheidet, dass seine Karbon-Prothesen Pistorius Vorteile verschaffen und er deshalb nicht an den Olympischen Spielen in Peking teilnehmen darf.
16. Mai 2008: Der Internationale Sportgerichtshof CAS hebt die IAAF-Entscheidung wieder auf. Pistorius verpasst aber die sportliche Qualifikation für die Spiele in Peking.
8. August 2011: Pistorius wird zusammen mit dem Sprinter Jason Smyth als erster behinderter Sportler für eine Leichtathletik-WM nominiert.
4. August 2012: Pistorius startet als erster beinamputierter Sportler der olympischen Geschichte bei den Spielen in London.
Der 27-Jährige hat nebenbei unter anderem Wirtschaft und Markenmanagement studiert. Ihm war bewusst, wie wichtig sein Auftreten außerhalb der Tartanbahn für Image und Karriere ist – eine Tatsache, die auch während des Prozesses wiederholt diskutiert wurde. So wurde bekannt, dass der Superstar seine Freundin angewiesen hatte, bei gemeinsamen Auftritten nicht Kaugummi zu kauen. „Das war in ihrem und meinem Interesse, das sieht vor der Kamera einfach nicht gut aus", versuchte Pistorius vor Gericht den Eindruck einer allzu dominanten Persönlichkeit zu entkräften.
Rücksichtslos und cholerisch
Das gelang ihm selten. Zwei seiner Freunde sowie eine Ex-Freundin beschrieben Pistorius als außerordentlich rücksichtslos und cholerisch. So habe er aus einem fahrenden Auto geschossen, nachdem kurz zuvor ein Polizist bei einer Straßenkontrolle das Magazin seiner Waffe entleeren wollte. „Du kannst nicht die Pistole eines anderen Mannes berühren“, habe er den Ordnungshüter angefahren, berichtete Darren Fresco, ein Freund von Pistorius aus der südafrikanischen Partyszene. Es passt ins Bild, dass ihm Pistorius widersprach: Dieser Vorfall habe sich nie ereignet.
In der öffentlichen Wahrnehmung nähert sich Pistorius der Niederlage. Und das liegt nicht allein an der wenig plausiblen Erklärung für seine Schüsse auf Steenkamp, sondern an seiner offensichtlichen Unfähigkeit, auch nur eine Teilschuld in anderen Anklagepunkten einzugestehen.
Gefeuert, ohne nachzudenken
„Haben Sie bewusst den Abzug der Pistole betätigt?“, fragte ihn sein Anwalt Barry Roux im Kreuzverhör zu der Tatnacht. Pistorius verneinte. Er sei angesichts der vermeintlichen Bedrohung durch Einbrecher so verängstigt gewesen, dass er gefeuert habe, ohne zu denken. Und das vier Mal. Zunächst hatte er sein Handeln in dieser tragischen Nacht als Notwehr dargestellt, was ein unabsichtliches Betätigen der Waffe juristisch ausschließt. Nicht einmal in diesem Punkt, so wird es in Südafrika wahrgenommen, übernimmt Pistorius die Verantwortung. Derartige Beispiele gab es im Lauf des Prozesses viele.
Der Fall Pistorius - eine Chronologie
14. Februar 2013: Steenkamps Leiche wird in Pistorius' Wohnung gefunden. Der Sportler hatte die 29-Jährige durch die geschlossene Toilettentür mit vier Schüssen aus einer seiner Schusswaffen getötet. Er wird festgenommen.
15. Februar 2013: Bei einem ersten Gerichtstermin, bei dem Pistorius Mord an seiner Freundin zur Last gelegt wird, bestreitet er den Mordvorwurf.
19. Februar 2013: Pistorius macht geltend, er habe hinter der Toilettentür einen Einbrecher vermutet und "furchtbare Angst" gehabt.
22. Februar 2013: Pistorius wird gegen eine Kaution von umgerechnet 75.000 Euro freigelassen.
März 2014: Zum Prozessauftakt sagt eine Zeugin aus, sie habe in der Tatnacht "schreckliche Schreie" einer Frau und Schüsse gehört. Pistorius übergibt sich bei der Verlesung des Autopsieberichts.
April 2014: Pistorius beginnt seine Aussage mit einer Entschuldigung bei Steenkamps Familie. Immer wieder bricht er im Kreuzverhör in Tränen aus und verwickelt sich auch in Widersprüche.
30. Juni 2014: Nach sechswöchiger Pause, in der sich Pistorius psychiatrischen Untersuchungen unterziehen muss, erklären drei Psychiater und ein Psychologe, dass der Angeklagte zur Tatzeit voll schuldfähig war.
11. September 2014: Richterin Thokozile Masipa spricht Pistorius von den Vorwürfen des Mordes und des Totschlages frei.
12. September 2014: Pistorius wird wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässigen Waffengebrauchs in einem Fall schuldig gesprochen.
21. Oktober 2014: Das Strafmaß wird verkündet: maximal fünf Jahre Gefängnis. Pistorius muss seine Haft sofort antreten.
10. Dezember 2014: Die Berufung wird zugelassen.
19. Oktober 2015: Pistorius wird auf Bewährung und unter Auflagen vorzeitig aus der Haft in den Hausarrest entlassen.
3. November 2015: Im Berufungsverfahren fordert die Staatsanwaltschaft eine Verurteilung wegen Mordes
3. Dezember 2015: Pistorius wird wegen Mordes schuldig gesprochen, der Fall wird an die Vorinstanz zurückverwiesen.
3. März 2016: Das Verfassungsgericht weist eine Beschwerde des Sportlers gegen den Schuldspruch zurück.
6. Juli 2016: Pistorius wird zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Er tritt seine Strafe sofort an. Sowohl Anklage als auch Verteidigung können Berufung gegen das Strafmaß einlegen.
Einige Wochen vor Steenkamps Tod schoss Pistorius mit der Pistole eines Freundes in den Boden eines Johannesburger Restaurants. Auch dafür ist er angeklagt. Es wäre ein Leichtes gewesen, den Vorfall zu gestehen, das Strafmaß ist vergleichsweise gering. Pistorius gab zu, die Waffe gehalten zu haben, was angesichts der Zeugenaussagen eindeutig belegt ist. Er bestritt aber auch diesmal, den Abzug betätigt zu haben. Staatsanwalt Gerrie Nel nannte es spöttisch ein „Wunder“.
Pistorius: Mangelnde Einsicht
Den Eindruck der mangelnden Einsicht vermittelt der Südafrikaner schon seit der Kautionsanhörung im vergangenen Jahr. Kaum war ihm die vorläufige Freilassung gewährt worden, da legte er Einspruch gegen die seiner Meinung nach zu harschen Auflagen ein. Er erstritt sich das Recht, international zu reisen und Alkohol zu trinken.
Von Letzterem macht er offenbar Gebrauch, vermeldeten im Juli die Zeitungen. Pistorius hatte einen Johannesburger Nachtklub besucht und war in ein Handgemenge mit einem Geschäftsmann verwickelt. Der Angeklagte habe alkoholisiert die mit ihm befreundete Familie von Südafrikas Präsidenten Jacob Zuma beleidigt, behauptete der Unternehmer. Pistorius ließ dagegen über eine Sprecherin mitteilen, er sei aggressiv mit Fragen zu dem Prozess bedrängt worden. Ein Onkel von Pistorius führte dessen „zunehmendes Gefühl von Einsamkeit und Entfremdung“ auf „sein selbstschädigendes Verhalten“ zurück.
Das Warten auf den Prozess als ausreichende Strafe
„Ich habe Verantwortung übernommen, indem ich mein Leben nicht gelebt habe und stattdessen gewartet habe, vor Gericht meine Geschichte zu erzählen“, hatte Pistorius während des Kreuzverhörs gesagt. Es entstand der Eindruck, als sehe er das einjährige Warten auf den Prozess und Einschränkungen des Privatlebens als ausreichende Strafe an.
Pistorius hatte die Öffentlichkeit geschickt für millionenschwere Sponsorendeals genutzt. Nun ist sie sein ständiger Begleiter, sobald er in Pretoria die Villa seines Onkels verlässt. Die Titelseiten zeigten Pistorius beim Paddeln in Mosambik und lachend in einem Restaurant. Ausgiebig berichteten die Zeitungen von vermeintlichen Flirts. Die Öffentlichkeit dürstet nach Details, die den offiziellen Darstellungen von Pistorius und seiner Familie widersprechen. Denen zufolge verbringt der angeblich auf Antidepressiva angewiesene, „gebrochene“ Sportler seine Zeit mit Fernsehen und dem Lesen der Bibel.
Seine Familie steht zu Pistorius
Die Familie bemüht sich, das öffentliche Bild von Pistorius zu korrigieren. An jedem Prozesstag waren rund ein Dutzend Angehörige im Gerichtssaal. Seine Tante Lois zeigte sich nach Angaben des südafrikanischen Onlinemediums Daily Maverick irritiert, dass die afrikaanssprachigen Journalisten meist in der Nähe von Steenkamps Familie sitzen würden. Tatsächlich wird nicht immer fair berichtet. Die Wochenzeitung City Press hatte im vergangenen Jahr behauptet, Pistorius habe in einem Autohaus einen neuen Audi gekauft, in Begleitung von Bodyguards und einer neuen Freundin. Dabei handelte es sich allerdings um Verwandte von Pistorius. Der Ombudsmann, das Kontrollorgan der südafrikanischen Presse, sprach eine Rüge aus.
Sollte Richterin Thokozile Masipa zu dem Schluss gekommen sein, dass Pistorius den Tod von Steenkamp vorhergesehen und gewünscht hat und damit ein spezielles Opfer im Sinn hatte, dann erfüllt Pistorius den Mordtatbestand des „Dolus Directus“. Darauf steht im südafrikanischen Strafrecht lebenslange Gefängnisstrafe mit frühestmöglicher Haftentlassung nach 25 Jahren.
Zwischen lebenslanger Haft und gemeinnütziger Arbeit
Mindestens 15 Jahre sind in Südafrika für einen Mord „Dolus Eventualis“ vorgesehen, was so viel wie Totschlag bedeutet. Darauf würde Masipa wohl entscheiden, wenn Pistorius seine Tat nicht geplant hatte, aber die tödlichen Konsequenzen vorhersehen hätte müssen. Die Richterin könnte diesen Tatbestand erfüllt sehen, selbst wenn sie Pistorius glaubt, er habe hinter der Tür einen Einbrecher vermutet. Nur wenige Juristen halten es für realistisch, dass Pistorius mit seiner Selbstverteidigungsversion durchkommen könnte.
Der Sportler wird aber wohl auf eine Verurteilung wegen „Fahrlässiger Tötung“ hoffen. Das könnte mehrere Jahre im Gefängnis, aber auch lediglich eine Geldstrafe oder Gemeindearbeit bedeuten. In jedem Fall könnte die Richterin „besondere Umstände“, wie etwa Pistorius’ Behinderung, strafmildernd berücksichtigen. Das Strafmaß wird allerdings voraussichtlich erst in ein bis zwei Monaten verkündet.
Vergleichbarer Fall in den USA
In den USA hat es vergangene Woche ein Urteil in einem vergleichbaren Fall gegeben. Ein Mann hatte eine betrunkene 19-Jährige erschossen, die nach einem Autounfall nachts an seiner Tür geklopft hatte und um sein Haus gegangen war. Auch er hatte angegeben, einen Einbrecher vermutet zu haben. Die Jury glaubte ihm, wertete die Tat aber dennoch als Totschlag. Er wurde zu 17 Jahren Haft verurteilt. „Eine ungerechtfertigte Angst kann niemals eine Entschuldigung sein, um jemanden zu töten“, sagte Richterin Dana Hathaway.