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Olympische Spiele in London: Dabei sein ist nicht alles

Olympische Spiele in London

Dabei sein ist nicht alles

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    „Der Osten wird saniert – aber nicht für die Leute, die dort leben, sondern für eine komplett neue, gehobene Bevölkerungsschicht“: Julian Cheyne, Bewohner des Londoner East End, vor einem Schrottplatz, der mit den Farben der britischen Nationalflagge (Union Jack) geschmückt wurde.
    „Der Osten wird saniert – aber nicht für die Leute, die dort leben, sondern für eine komplett neue, gehobene Bevölkerungsschicht“: Julian Cheyne, Bewohner des Londoner East End, vor einem Schrottplatz, der mit den Farben der britischen Nationalflagge (Union Jack) geschmückt wurde. Foto: Jasmin Fischer

    Hackney Marshes ist ein Stückchen Großstadtnatur, über das man am manikürten Hyde Park abfällig lächelt. Im letzten Jahrhundert wehte der Wind die Kloakengerüche der Metropole über das alte Sumpfland. Nach dem Krieg lud die Stadt hier ihren Bombenschutt ab. Das East End machte das Beste aus der Brache, ließ Gras drüber wachsen und spielte Fußball auf den begrünten Trümmern. Über 1000 Hobbykicker, jedes Wochenende, seit über 60 Jahren. Sie nennen sich „Sonntagsliga“, worin keine feine Ironie steckt, sondern ziemlicher Ehrgeiz. David Beckham hat hier auf dem Malocherrasen begonnen. „Aber wen interessiert das heute noch“, sagt Johnnie Walker.

    Der Trainer der Sonntagsliga klingt mürbe. Seit London 2007 den Zuschlag zu den Olympischen Spielen bekommen hat, bemüht er sich um Schadensbegrenzung für die Marsch. Ein fünfstöckiges Medienzentrum thront nun auf dem Gelände, sechs Fußballplätze hat der Bau für immer vernichtet. Zusätzliche zwölf

    In Rekordzeit wurden die Schmuddelviertel saniert

    Schöner neuer Osten. In Rekordzeit hat die britische Hauptstadt Olympia-Spielstätten aus dem Boden gestampft und ihre Schmuddelviertel saniert. Doch was ist mit den Menschen passiert, die dem Großprojekt im Weg waren – den Schrebergärtnern, Freizeitkickern, Arbeitern und Mietern? Hier prallt olympischer Pomp auf unspektakuläre Alltagshelden, deren Leben ein anderes ist, seitdem die weltgrößte Sportveranstaltung vor ihrer Tür landete.

    Die Litanei der Olympia-Vertriebenen klingt fast immer gleich: Im Wirrwarr der Zuständigkeiten gingen Versprechen verloren, werden Kritiker ausmanövriert, vertröstet – und am Ende hat die Olympic Delivery Authority (ODA) immer die stärkeren Muskeln. „Die Sommerspiele werden auf Kosten der kleinen Sportvereine mit Milliarden gefördert“, sagt Walker, „aber wenn Großbritannien sich nicht um die Amateure kümmert, wächst doch irgendwann keine Elite mehr nach.“

    Wie Olympia in London ausgerechnet motivierten Freizeitsportlern das Training abspenstig macht, sieht man nirgendwo so gut wie im Eton Mission Rowing Club. Direkt neben die Bootshalle des Ruderklubs haben Planer den Betonsockel für eine Fußgängerbrücke über den Kanal in den Olympia-Park gesetzt. Seitdem können die Männer nur noch in Einer- und Zweier-Booten aufs Wasser – die langen Vierer- Boote lassen sich wegen des Sockels nicht mehr aus der Halle dirigieren.

    Die Stadt hat ihnen zwar ein Ersatzgrundstück angeboten – allerdings zwei Meilen vom Kanal entfernt. „Ihnen war nicht bewusst, dass wir als Ruderklub einen Wasserzugang brauchen“, sagt Sprecher Robert Hall. Solche Grundstücke gibt es im boomenden Osten auch gar nicht mehr. Für die Zukunft des Vereins, gegründet 1892, sieht Hall deshalb schwarz. Geld für juristischen Beistand ist knapp, manche Mitglieder haben schon gekündigt.

    Offiziell rühmen sich die Olympia-Planer jedoch mit der Nachhaltigkeit, der „legacy“, dieser Spiele. London soll nicht nur 17 Tage lang von dem Spektakel profitieren, sondern mit dem sanierten Viertel ein Erbe für Generationen erhalten. Viele Ecken sind erst jetzt zugänglich gemacht worden, No-Go-Zonen wandeln sich in begehrte Viertel für junge Familien. Als „Schande“ und „Vandalismus“ hingegen bezeichnet Walker die Architektur, die sein Grasland frisst – eine Meinung, die in der Metropole in dutzenden Nuancen daherkommt.

    Hausbootbesitzer und Kleinbetriebe müssen verschwinden

    Auch Hausbootbesitzer und Kleinbetriebe mussten von dem 250 Hektar großen Gelände, auf dem nun der olympische Park steht, verschwinden. Fast 500 Firmen waren betroffen. Die meisten sind entschädigt worden, doch für die Summen kriegen sie in der rasant teurer werdenden Hauptstadt keine vergleichbaren Grundstücke. Manche sind Konkurs gegangen, andere mussten London ganz verlassen, um sich im günstigeren Umland einen neuen Kundenkreis aufzubauen.

    Dem Bezirksvorsitzenden von Newham, Sir Robin Wales, kommt das nicht ungelegen. Wenn es nach seinen Plänen ginge, würde das East End nicht Autowerkstätten, Lackierstuben und Schreiner hegen, sondern Hightech und Forschungsindustrie. Nach den Spielen fällt deshalb ein weiteres Gebäude: Carpenters Estate, ein Klotz mit 450 Sozialwohnungen, muss dem neuen Campus vom University College London Platz machen. Derzeit kämpfen Anwohner gegen das Vorrücken der Bulldozer, darunter auch Mary Finch, die hier 40 Jahre gelebt hat und verzweifelt: „Die Spiele nehmen mir mein Zuhause.“

    Protest ist zwecklos

    Ihr Protest ist so rührig wie zwecklos. Denn am Anfang aller Räumungsgeschichten aus dem Olympia-Bezirk kennt man schon ihr Ende. Julian Cheyne war einer der Ersten, den es erwischt hat. Als der Wohnkomplex Clays Lane Estate 2007 für den Olympia-Park abgerissen wurde, hat er bis zum Schluss, als die Bagger schon vor der Tür standen, gekämpft. Gebracht hat das alles nichts. „Der Umgang der Olympia-Planer mit dem East End ist ein Mix aus Brutalität und Inkompetenz“, sagt er heute.

    Clays Lane war beliebt, umso schwerer wiegt für ihn der Verlust. „Man brauchte die Tür nicht abschließen“, erinnert sich Cheyne, „die Nachbarn halfen beim Einkauf, feierten Weihnachten zusammen.“ Menschen aus 44 verschiedenen Nationen lebten hier. „Als Alternative wurde uns ein Haus neben einer vierspurigen Schnellstraße angeboten.“ Niemand wollte dort wohnen. Am Ende wurde die Gemeinschaft aufgesplittet, quer über die Stadt verteilt, manche Sozialhilfeempfänger angesichts des Wohnungsmangels zu privaten Unterkünften gedrängt. Für fast alle ist es teurer geworden. „Die Olympia-Macher sagen, sie helfen den Londonern, aber am Ende tun sie einfach, was sie tun müssen.“ Olympia ist für ihn „ein vielschichtiges Lügengewebe“.

    Doch warum diese radikale Härte für Wettkämpfe, die nach zwei Wochen wieder vorbei sind? Ex-Bürgermeister Ken Livingstone hat aus seiner Motivation kein Geheimnis gemacht: „Ich habe Olympia nicht wegen des Sports nach London geholt, sondern weil es die einzige Chance war, bei der Regierung Milliarden für das East End lockerzumachen.“ Kritiker wie Fußballtrainer Walker, die Ruderer oder verscheuchte Mieter formulieren das anders: Der alte Londoner Osten ist in ihren Augen zum Opfer von Spekulanten geworden, die darauf setzen, dass steuerfinanzierte Neubauten im Wert steigen und Profite abwerfen. 8000 Wohnungen entstehen am Olympia-Park, die Sportanlagen sollen nach den Spielen vermietet werden. Zwölf Milliarden Euro pumpt Großbritannien in das Projekt. Und doch geht der Plan, die Spiele zu einem Katalysator des Aufschwungs zu machen, möglicherweise gar nicht auf.

    Nach den Unruhen von 2011 gab es so viele Versprechen

    In einem Essay greift Diane Abbott, Abgeordnete für den Olympia-Wahlkreis Hackney, die Macher schon an: „Jobs für die örtliche Bevölkerung sind bei dem Bau der Sportstätten nicht geschaffen worden.“ Von 44000 Menschen, die auf Europas größter Baustelle geholfen haben, kam nur jeder Zehnte aus dem East End. „Die ODA hat nie ernsthaft versucht, die Bewohner in die neuen Chancen einzubinden“, so Abbott. Dabei hätte es gerade 2011 nach den Unruhen von Tottenham so viele Versprechen gegeben...

    Auch Julian Cheyne macht das von allen Dingen am meisten wütend: „Der Osten wird saniert – aber nicht für die Leute, die dort leben, sondern für eine komplett neue, gehobene Bevölkerungsschicht. Er wird zum Spielplatz für die Mittelschicht.“ Seit 2007 sind die Preise für Immobilien in Hackney um 56 Prozent gestiegen. Einst Südenglands ärmste und schmutzigste Ecke, ist das Viertel heute trendy. Das Los ärmerer East Ender wiegt wenig gegen die satten Renditen, die hier eingefahren werden können. Wer würde dem schon im Weg stehen wollen? Eine rhetorische Frage. Julian Cheyne beantwortet sie trotzdem: „Alle haben sich dem Projekt Olympia unterworfen – Parteien, Ämter, die öffentliche Hand. Sie alle huldigen einem Monster.“

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