Von Rüdiger Heinze Da hielt es das Publikum nicht mehr auf den Sitzen. Als die heilige Anna des Opernhimmels während der ersten Zugabe den ersten Konzertmeister knutschte, einen Flamenco mit gerafften Kleid hinlegte und schließlich ältere Herren auf Plätzen à 482 Euro mit Blumen aus dem Bühnenschmuck beglückte, geriet die Münchner Philharmonie aus dem Häuschen - und ebenso nach der zweiten bis vierten Zugabe. In den vorderen Reihen hätte jeder jeden umarmen mögen, ein Bacchanal der Zustimmung.
Doch der Rausch passte nicht so recht zu jenen Tönen, die der eine oder andere Großkritiker jüngst anschlug, um Distanz zu beweisen, die eigene Kritikfähigkeit zu wetzen und Defizite von Großkünstlern bloßzulegen. Lang Lang feiere nur den pianistischen Moment, ohne den kompositorischen Zusammenhang zu erkennen; die Netrebko habe eine zu glatte, unpersönliche Stimme, als dass sie unterschiedliche Opern-Partien unterschiedlich beglaubigen könne. Beide Punkte sind nicht vollkommen falsch - nur: Hätten mehr Solisten die Stärken von LL und AN und lediglich deren (noch entwickelnd korrigierbare) Schwächen, dann wäre die Musikwelt nicht ärmer, sondern erheblich reicher.
Dazu kommt: Man muss der Netrebko und ihrem Bühnenpartner Rolando Villazón hoch anrechnen, dass sie die aktuelle Renaissance der Oper nicht mit den immergleichen Stücken befeuern, sondern auch auf Musik jenseits des Opern-Randrepertoires hinweisen - während der jetzigen Tournee etwa auf Bizets "Perlenfischer", Puccinis "Die Schwalbe", Tschaikowskys "Jolanthe", dazu auf Nummern von Gomes, Sorozabal, Penella. Kennt kaum einer, reißt dennoch mit.
Was den Münchner Abend aber zum Hauptgewinn machte, das war - nach anfänglichen Geschmeidigkeitsproblemen - die Emphase und tenorale Verausgabung Villazóns und Anna Netrebkos anscheinend sich noch ausweitendes Sopranvolumen. Sie probiert sich bravourös an der "Casta Diva"-Arie Normas und an "La Wally" von Catalani. Und immer liegt sie über dem Orchester, spielt souverän mit Dynamik, Farben, Stimmreserven. Sie bietet die strahlende, frei schwingende Fülle des Wohllauts mit tragfähigem, dunklem, gleichwohl koloraturfrischem Belcanto. Abzusehen ist, worauf das hinausläuft: Irgendwann wird sie die ganze Aida, die ganze Tosca, wohl auch die Turandot singen. Villazón seinerseits frappiert mit dem Triumph der sich entäußernden Seele - wenn auch sein Material weniger robust, leichter anfällig wirkt. Nicht selten schaukeln sich beide aneinander hoch, stehen sich im Angesicht dicht gegenüber - und lassen bei aller allgemeinen Hörer-Adoration hoffen, ihre jeweilige Aussprache sei nicht allzu feucht.
Teuer war der Abend und professionell. Gegen Bezahlung legte sich in seinen Ferien das Orchester der Deutschen Oper Berlin unter Marco Armiliato ins Zeug. Beschwingt spielte es auf (Rossini), geboten an die Pumpe gehend (Intermezzo aus "Cavalleria rusticana"), gelegentlich rhythmisch etwas zu pauschal. Von der Präsentationsform des Abends (dunkler Saal, Spots auf die Subjekte der Begierde, halbszenisches Spiel) können andere Konzertveranstalter lernen. Insgesamt überrumpelnd. Und so pfiff mancher der Netrebko im hautengen Nixen-Kleid wie ein Bauarbeiter nach.