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Neresheim: Massengentest im Fall Bögerl: Einer muss es gewesen sein

Neresheim

Massengentest im Fall Bögerl: Einer muss es gewesen sein

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    DNA-Reihenuntersuchung: Rund 3000 Männer aus Neresheim sollen eine Speichelprobe für einen groß angelegten DNA-Test im Mordfall Bögerl abgeben.
    DNA-Reihenuntersuchung: Rund 3000 Männer aus Neresheim sollen eine Speichelprobe für einen groß angelegten DNA-Test im Mordfall Bögerl abgeben. Foto: Bodo Marks/Archiv (dpa)

    Einer muss es ja gewesen sein. Einer hat Maria Bögerl umgebracht. Vielleicht waren es sogar mehrere Täter. Noch nicht einmal das scheint klar zu sein fast vier Jahre nach dem Mord. Am Wochenende nun hat die Polizei in der baden-württembergischen Kleinstadt Neresheim zum Massengentest geladen. Rund 3000 Männer sollten freiwillig ihre DNA untersuchen lassen. Die Ermittler vermuten: Einer von ihnen ist der Mörder. Aber wer? Ein ganzer Ort steht unter Generalverdacht. Bis Sonntag Abend gaben mehr als 1300 Männer eine Speichelprobe ab.

    Fall Bögerl: Ein ganzes Dorf unter Generalverdacht

    Angenehm fühlt sich das nicht an. Neresheim, knapp 8000 Einwohner, nur wenige Kilometer entfernt von der Grenze zu Bayerisch-Schwaben. Mittendrin, im Gasthaus Stern, sitzen zehn Männer am Stammtisch. Sie wissen, dass auch sie zum DNA-Test gehen sollen. Die Gespräche schwanken zwischen dummen Witzen und Unbehagen. „Geh du hin und sag einfach, du warst es“, sagt einer zu seinem Nebensitzer, „dann ist der Fall endlich erledigt.“ Der Angesprochene grinst müde. „Wenigstens kann man bei diesem Test nicht ablesen, wie’s um die Leberwerte steht“, witzelt ein anderer.

    Die Übrigen am Tisch halten sich an ihren Bierkrügen fest. Zu einem Lachen kann sich keiner überwinden. Zu lange schon schwelt diese Ungewissheit. Zu oft schon haben sich Polizei und Staatsanwaltschaft in dem Fall verrannt. Zu viel ist passiert. Und noch immer weiß man viel zu wenig.

    Chronologie: Der Fall Maria Bögerl

    12. Mai 2010: Am Vormittag wird die Ehefrau des Vorsitzenden der Kreissparkasse Heidenheim, Maria Bögerl, aus ihrer Wohnung in Heidenheim-Schnaitheim von unbekannten Tätern entführt.

    Wenig später erhält ihr Ehemann eine telefonische Lösegeldforderung über 300.000 Euro. Der Anrufer spricht einen regional typisch schwäbischen Dialekt und verwendete die Formulierung "machen Sie keine Sperenzchen".

    13. Mai 2010: Eine Lösegeldübergabe am Nachmittag des Entführungstages scheitert. An der Übergabestelle an der A7 holen die Täter das deponierte Lösegeld nicht ab.

    14. Mai 2010: Maria Bögerls Handy wird gefunden. Ihre schwarze Mercedes Benz A-Klasse, in der sie entführt wurde, entdeckt die Polizei nach Hinweisen im Hof des Klosters Neresheim.

    18. Mai 2010: Die Belohnung für Hinweise zur Aufklärung des Falls wird auf 100.000 Euro verdoppelt. Die Sonderkommission "Flagge" wird gebildet.

    19. Mai 2010: Mit einem verzweifelten Appell wendet sich die Familie in der ZDF-Sendung "Aktenzeichen XY... ungelöst" an die Täter. Trotz zahlreicher Hinweise gibt es keine heiße Spur.

    3. Juni 2010: Ein Spaziergänger entdeckt die Leiche von Maria Bögerl in der Nähe von ihrem Haus im Wald. Die Obduktion ergibt, dass Maria Bögerl erstochen wurde. Am 9. Juni wird sie unter großer Anteilnahme beigesetzt.

    11. Juli 2011: Maria Bögerls Ehemann Thomas erhängt sich in seinem Haus. Auch er war zwischenzeitlich in Verdacht geraten.

    14. Juli 2011: Die Kinder der Bögerls kritisieren öffentlich die Polizei.

    5. September 2012: Die Polizei wendet sich über die Sendung "Aktenzeichen XY" des ZDF an die Bevölkerung. Mehr als 500 Zuschauer melden sich.

    Januar 2013: Die Soko wird von 16 auf 12 Ermittler verkleinert. Mehr als 3000 Speicheltests machten die Beamten bis dato auf der Suche nach dem Täter oder den Tätern. Gut 9800 Hinweise gingen bisher ein.

    8. Mai 2013: Es ist ausschließlich die Rede von mehreren Tätern. Sie werden im Spielhallen-Milieu im Raum Neresheim, Giengen an der Brenz oder Dillingen gesucht.

    14. Februar 2014: In Neresheim (Ostalbkreis) soll ein DNA-Massentest die entscheidenden Hinweise bringen. Mehr als 3000 Männer sollen zur Reihenuntersuchung antreten.

    21. August 2014: Die zweite Auflage des Massentests: Auch in Giengen an der Brenz werden rund 500 Männer zum DNA-Test aufgefordert.

    Februar 2015: Ein Zeuge, der früher in Augsburg lebte, behauptet, er kenne die beiden Täter. Die Polizei ist skeptisch, da es sich beim Zeugen um einen notorischen Betrüger handelt.

    13. Februar 2015: Das Amtsgericht Ellwangen will mehrere Männer zur Speichelprobe zwingen. Diese hätten die Teilnahme an den freiwilligen DNA-Massentests bislang verweigert, gegen sie lägen aber "weitere Verdachtsmomente" vor.

    23. April 2015: Die Staatsanwaltschaft Ellwangen verkündet, den angeblichen neuen Zeugen vorerst nicht mehr vernehmen zu wollen.

    November 2015: Auf der Suche nach dem Täter werten die Ermittler mit einer neuen Software 600.000 alte Datensätze aus – darunter vor allem Handy-Verbindungsdaten aus dem Tatzeitraum.

    April 2016: Knapp sechs Jahre nach dem Mord an der Bankiersgattin geht die Polizei noch einmal 150 neuen Ermittlungsansätzen nach.

    Dezember 2016: Sechseinhalb Jahre Arbeit, über 10.300 Hinweise und keine heiße Spur. Beim Mordfall Maria Bögerl tappen die Ermittler seit Jahren im Dunkeln – aber der Fall treibt sie weiter um.

    5. April 2017: Die Ermittler suchen nach einem Verdächtigen und gehen einer entscheidenden Spur nach. Der Mann ist in Nordrhein-Westfalen gesehen worden. In der ZDF-Sendung "Aktenzeichen XY" suchen die Ermittler erneut nach Zeugen. Sie veröffentlichen ein Phantombild und Teile einer Tonaufnahme.

    6. April 2017: Ein Verdächtiger im Mordfall Bögerl wurde festgenommen. Er soll die Tat vergangenen Sommer betrunken vor Zeugen gestanden haben. Ein DNA-Abgleich verlief aber negativ.

    Nur das ist sicher: Einer muss es gewesen sein. Am 12. Mai 2010 entführte jemand die Bankiers-Ehefrau Maria Bögerl in ihrem Auto aus dem Haus der Familie im Nachbarort Schnaitheim, der zu Heidenheim gehört. Stunden später, heißt es, klingelte das Telefon ihres Ehemannes Thomas. Der war damals Vorstandschef der Kreissparkasse

    Schließlich entdeckte ein Spaziergänger die Leiche rund drei Wochen danach in einem Waldstück nahe der kleinen Ortschaft Niesitz. Jemand hatte die Bankiersfrau erstochen und ihren toten Körper unter einem Haufen Reisig versteckt. Zum Fundort führt von einer Landstraße aus nur ein kleiner Weg. Der sandige Pfad ist schmal und teils von Gras überwuchert. Überall wächst Moos. Dürre Äste und Zweige liegen zwischen den Bäumen. Mehr ist dort heute von dem Verbrechen nicht mehr zu sehen. Sichtbar wird aber: An so einem Ort kommt man nicht zufällig vorbei.

    Neresheim: Massengentest soll Täter überführen

    Schwäbischer Dialekt am Telefon, das am Kloster geparkte Auto und die Leiche in dem abgelegenen Wald – auch deshalb glauben Polizei und Staatsanwaltschaft, dass der Mörder aus Neresheim stammt. „Das ist eine schwierige Situation“, sagt Bürgermeister Gerd Dannenmann. Der Massengentest macht quasi die Hälfte der Bürger in seiner Stadt zu Verdächtigen. Dannenmann versucht, trotzdem das Lächeln zu bewahren und Vorbild zu sein. Vor den Linsen von einem halben Dutzend Fernsehkameras lässt sich der Bürgermeister als Erster das Wattestäbchen für den DNA-Test in den Mund schieben.

    Alle Männer der Stadt, die zwischen 21 und 68 Jahre alt sind (also zur Tatzeit zwischen 18 und 65 waren), sollen es ihm nachtun. Wer von ihnen am Wochenende nicht freiwillig zum Test in die Härtsfeldschule gekommen ist, wird in den nächsten Wochen per Brief noch einmal eingeladen. Die Ermittler vergleichen die DNA mit Spuren, die sie vor fast vier Jahren im Auto der Entführten gefunden haben. Ergebnisse sollen erst in einigen Wochen vorliegen. Gibt es keine Übereinstimmung, werden die Abstriche „unverzüglich vernichtet“, sagt Armin Burger von der Staatsanwaltschaft Ellwangen. Ob er wirklich glaubt, dass sich der Mörder von Maria Bögerl freiwillig testen lässt? „Wir hoffen auch auf das Ausschlussprinzip“, sagt Burger.

    Und das treibt die Männer zum DNA-Test. Schon in den ersten Stunden stehen sie in einer langen Reihe an, um den Ermittlern ihre Daten und ihre Speichelprobe zu überlassen. „Ich weiß ja, dass ich es nicht war“, sagt Helmut Braun, 66. „Ich habe nichts zu verbergen“, sagt auch Steffen Glaser, 25. Viele der anderen Männer, die gekommen sind, wollen ihre Namen nicht nennen. Sie schütteln nur schweigend den Kopf. Auch über den Mordfall wollen sie nichts mehr sagen. Viel zu lange ist das alles her. Viel zu viel ist schon geredet worden. Und noch immer weiß man viel zu wenig.

    Fall Bögerl: Viele Pannen erschwerten die Ermittlungen

    Eine ganze Reihe von Pannen haben den Fall im Laufe der Jahre noch komplizierter gemacht, als er ohnehin schon ist. Das begann bei der geplanten Lösegeld-Übergabe. 300 000 Euro sollte Thomas Bögerl in kleinen Scheinen an einer Autobahn-Unterführung unter einer Deutschland-Flagge ablegen. Doch er schaffte es nicht, die knappe Zeitvorgabe des Entführers einzuhalten. Was genau schiefging, ist bis heute nicht ganz klar. Die Ulmer Bundesbank-Filiale hätte das Geld bereitstellen sollen. Doch die hatte in den entscheidenden Stunden Mittagspause. Und so konnte Bögerl das Lösegeld erst mit 90 Minuten Verspätung an der vorgegebenen Stelle platzieren. Es wurde nie abgeholt.

    Auch bei der Suche nach Maria Bögerl wurde offenbar geschlampt. Ein Spaziergänger fand die Leiche, nachdem die Polizei das Waldstück zuvor schon erfolglos durchkämmt hatte. Auch der Versuch, über „Aktenzeichen XY“ weiterzukommen, ging nach hinten los. In der Woche nach ihrem Verschwinden baten Thomas Bögerl und seine Kinder Carina und Christoph in der Fernsehsendung die Bevölkerung um Mithilfe. Viele Zuschauer fanden damals, die Familie hätte bei diesem Auftritt steif und unglaubwürdig gewirkt. Gerüchte gingen um. Aber wie hat jemand auszusehen, dessen Frau oder Mutter gerade entführt wurde? Seit dem Verschwinden von Maria Bögerl waren zu diesem Zeitpunkt erst einige Tage vergangen.

    Weil die Telefonanlage der Bögerls falsche Datums-Angaben gespeichert hatte, verdächtigten auch die Ermittler zwischenzeitlich Thomas Bögerl und seine Kinder einer Mittäterschaft. Als nach Monaten klar wurde, dass es sich um einen technischen Fehler gehandelt hatte, war der Ruf der Familie schon ruiniert. Ein Jahr nach dem Tod seiner Frau erhängte sich Thomas Bögerl im Fitnessraum seines Hauses. Tochter Carina gab 2012 ein Interview, in dem sie Staatsanwaltschaft und Polizei massiv kritisierte. „Das Ausmaß an Pannen hat unser Vertrauen zerstört“, sagte sie. „Die Instanz, die dazu da ist, dir zu helfen, macht tausend Fehler und versinkt in planlosem Aktionismus.“

    Ermittler fielen auf falschen Informanten herein

    Die Reihe von Pannen ging weiter. Es stellte sich heraus, dass die Ermittler einen womöglich für den Fall wichtigen anonymen Brief einfach liegen gelassen hatten. Das Schreiben war sechs Tage nach der Entführung eingegangen. Der Absender teilte darin mit, dass Maria Bögerl schon tot sei – obwohl die Leiche zu diesem Zeitpunkt noch nicht gefunden war.

    Einen Verdächtigen, der sich weigerte, freiwillig einen DNA-Test zu machen, ließen die Ermittler monatelang überwachen, ohne sein Alibi für die Zeit der Tat genau geprüft zu haben. Hinweisen, die auf einen anderen Verdächtigen in Österreich hindeuteten, gingen sie nicht nach.

    Dann führte ein anonymer Anrufer die Polizei monatelang in falsche Richtungen. Der Mann nannte sich „Tom“ und behauptete, in einem Spielkasino bei Heidenheim ein verdächtiges Gespräch zweier Rumänen belauscht zu haben. Er versorgte die Soko „Flagge“ mit Theorien, die er als Tatsachen hinstellte. Sogar den Verkauf von angeblichen Beweisstücken bot er der Polizei an – und ließ sich für all das bezahlen. Also konzentrierten sich die Ermittler auf die „Spielhallenszene“ und nahmen dabei unter anderem den benachbarten Raum Dillingen an der Donau ins Visier. Ohne Erfolg. Im April 2013 flog der Betrug auf. Der falsche Hinweisgeber wurde zu drei Jahren Haft verurteilt.

    Jetzt stellt der Massengentest einen ganzen Ort unter Generalverdacht. Denn einer muss es ja gewesen sein. Das sagt auch der ehemalige Nachbar der Bögerls. Er wohnt nur ein paar Meter neben dem Gebäude, in dem die Familie früher lebte. Eine Mauer aus grau-braunen Holzlatten umgibt das Haus zur Straße hin. Nur auf der Terrassenseite, die Blick auf eine Wiese bietet, ist die Sicht offen. „Das war schon immer so“, sagt der Nachbar. Seinen Namen will er nicht sagen. Aber er erzählt, dass er die Familie gut gekannt hat – lange, bevor Maria Bögerl aus dem Haus hinter der Mauer entführt und ermordet wurde. Und lange bevor deren Ehemann Thomas sich ein gutes Jahr später im Fitnessraum des Hauses das Leben nahm. „Es ist eine Tragödie“, sagt der Mann. Dann will er nicht mehr über den Fall sprechen.

    Mord an Maria Bögerl: DNA-Test von 3000 Männern soll Aufschluss bringen

    Das Haus, in dem die Bögerls einst lebten, ist mittlerweile verkauft. Eine junge Familie wohnt darin. Die Mauer haben sie mit weißen Schneeflocken beklebt. Maria Bögerl, die anfangs am Waldfriedhof beigesetzt war, wurde nach dem Suizid ihres Mannes umgebettet. Die Kinder haben Mutter und Vater in einem gemeinsamen Grab bestatten lassen. Und jetzt lassen Polizei und Staatsanwaltschaft die DNA von 3000 Männern untersuchen.

    Fast vier Jahre nach dem Mord ist noch immer nur das sicher: Einer muss es gewesen sein.

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