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Nepal: Erneutes Erdbeben: Der Horror geht von vorne los

Nepal

Erneutes Erdbeben: Der Horror geht von vorne los

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    Chaos und Zerstörung in Nepal: Die Retter müssen wieder Erste Hilfe leisten und wissen nicht, wo sie anfangen sollen.
    Chaos und Zerstörung in Nepal: Die Retter müssen wieder Erste Hilfe leisten und wissen nicht, wo sie anfangen sollen. Foto: Narendra Shrestha (dpa)

    Es ist Mittag in Kathmandu. Maren Wiese will in einer Seitenstraße im Zentrum der nepalesischen Hauptstadt Essen einkaufen. Unweit des Durbar-Platzes ist die Koordinatorin der Kaufbeurer Hilfsorganisation Humedica unterwegs. Jenem Platz, der einst von mehr als 50 Pagoden, Tempeln und Palästen umgeben war, von denen die meisten bei dem großen Beben vor 17 Tagen zerstört worden sind. „Am Anfang habe ich gar nicht realisiert, was da passiert“, erzählt Maren Wiese gestern am Telefon. „Plötzlich sind die Menschen schreiend aus den Häusern gelaufen.“ Wieder bebt die Erde, wieder wackeln die Gebäude, 40 Sekunden lang. „Direkt neben mir stürzen Häuser ein, ich sehe nur noch Menschen, so weit das Auge reicht.“ Eine Menschenmasse wälzt sich durch die engen Gassen von Kathmandu. „Wir sind mitgelaufen“, sagt sie, einfach weg. In einem großen Schulhof wartet Maren Wiese mit ihren Kollegen und hunderten Nepalesen, bis der Spuk vorbei ist.

    300.000 Häuser wurden beim ersten Beben zerstört

    Der bitterarme Himalaya-Staat hat sich von der Naturkatastrophe am 25. April noch nicht erholt. Mehr als 8000 Menschen sind ums Leben gekommen, etwa 16000 wurden verletzt. Die Behörden gehen davon aus, dass 300000 Häuser schon damals vollständig zerstört wurden, weitere 250000 sind schwer beschädigt. Und jetzt das.

    Während Nepal noch nach Verschütteten gräbt, Zelte an Obdachlose verteilt, Verletzte aus entlegenen Bergregionen ausfliegt, passiert schon das nächste schwere Erdbeben. Häuser, die beim letzten Mal gerade noch stehengeblieben sind, fallen jetzt in sich zusammen. Hänge, die dem Zittern damals standhielten, rutschen jetzt ins Tal. Und die Menschen, die noch Hoffnung hatten, verzweifeln. „Ich weiß nicht mehr, wie ich mein Kind beschützen soll“, sagt Mridu Shrestha, neben sich ihren kleinen Sohn. Der Zweijährige hat Mückenstiche am ganzen Körper, weil er seit Wochen im Zelt schläft. „Er weint seit dem Beben ununterbrochen und erschrickt jedes Mal, wenn er ein lautes Geräusch hört“, sagt sie. Saral Gurung, ebenfalls Bewohner einer Zeltstadt in Kathmandu, fügt hinzu: „Ich bin müde. Ich glaube nicht, dass ich mich jetzt noch mal aufraffen kann, um zu arbeiten.“

    Erneutes Beben in Nepal - begängstigende Situation für alle

    Dieses erneute Beben, es hat das Trauma der Überlebenden verschärft. „Wir spürten es sofort“, sagt Suresh Sharma, eine alte Frau, die an diesem Mittag auf dem Gemüsemarkt ist. „Die Situation ist sehr beängstigend“, sagt sie. Auch weil die Menschen in alle Richtungen davonlaufen. Das Beben im April hat die 63-Jährige nur knapp überlebt – „und jetzt fühlt es sich wieder genauso an“. Damit ist auch der Schock wieder da, die Angst, das Entsetzen. „Ich kann nicht glauben, dass alles wieder von vorne losgeht“, sagt

    Zehntausende Menschen leben in Kathmandu noch auf Gehsteigen, in Innenhöfen, an den Kreisverkehren, in Parks. Viele von ihnen haben gerade erst die Zeltplanen zusammengefaltet und sind in ihre Häuser zurückgekehrt. Der eine oder andere hat schon mit dem Wiederaufbau seines Heims begonnen. Doch das Beben gestern hat sie wieder auf die Straße getrieben, wo ihnen kein tonnenschwerer Betonklotz oder ein Balken auf den Kopf fallen kann.

    Es ist gefährlich durch die Stadt zu laufen

    Das Humedica-Team findet am Nachmittag über große Umwege zurück zu dem Haus, in dem es in Kathmandu übernachtet. Durch die kleinen Gassen in der verwinkelten, einst malerischen Stadt zu laufen ist zu gefährlich, weil immer noch viele Häuser zusammenstürzen. „Die Schäden, die vorher schon immens waren, sind jetzt noch schlimmer geworden“, sagt Maren Wiese. Denn jetzt sind die Gebäude, die vom ersten Beben beschädigt waren, endgültig nur mehr ein Haufen Schutt. Das Gute daran ist: Viele der angeknacksten Häuser waren abgesperrt, die einstigen Bewohner ausgezogen. „Ich hoffe, dass es dadurch diesmal nicht so viele Verletzte gibt“, sagt Maren Wiese.

    Auch die Mädchen und Buben aus einem mit deutscher Hilfe aufgebauten Waisenhaus in Kathmandu laufen ins Freie, als die Erde wieder zu beben anfängt. So haben sie es gelernt, so haben sie es seit Ende April immer wieder gemacht. Dass dieses heftige Nachbeben mit einer Stärke von 7,2 ihnen wieder genauso viel Angst machen wird wie die verheerende Katastrophe 17 Tage zuvor, wissen sie da noch nicht.

    „Es hat bereits nach der ersten großen Erschütterung am 25. April 300 Nachbeben gegeben“, erzählt Wolfgang Straub aus Blaichach im Oberallgäu. Er war als Helfer des Medizinischen Katastrophen-Hilfswerks Deutschland in Nepal und ist erst vergangenes Wochenende zurückgekommen. Gestern Morgen erreicht ihn eine Mail von Mitgliedern der Allgäuer Hilfsorganisation, die noch in Kathmandu sind. Alle vier Sanitäter seien wohl auf, glücklicherweise sei auch den Kindern im Waisenhaus nichts passiert.

    Von Dutzenden Toten ist bislang die Rede

    „Viele bereits beschädigte Häuser sind hier in Kathmandu durch das neuerliche Beben ganz in sich zusammengefallen und nun völlig unbewohnbar“, schildert auch Sanitäter Josef Riener, 56, im Telefongespräch mit unserer Zeitung. Er ist als Mitarbeiter des Katastrophen-Hilfswerks vor Ort.

    Da das Epizentrum des Bebens diesmal etwa 70 Kilometer östlich der Hauptstadt, also unweit der chinesischen Grenze, liegt und dieses Gebiet weniger dicht besiedelt sei als das Kathmandu-Tal, werde die Zahl der Opfer wohl geringer sein, vermutet Riener. Von Dutzenden Toten ist bislang die Rede. Wie die Lage außerhalb der Stadt mit ihren knapp eine Million Einwohnern aber tatsächlich ist, weiß noch keiner genau. Zu viele Straßen sind durch Erdrutsche verschüttet, zu viele Bergdörfer noch oder wieder von der Außenwelt abgeschnitten.

    Es steht aber wohl fest: „Wir müssen mit ähnlich großen Schäden rechnen wie nach dem Erdbeben Ende April“, sagt Michael Frischmuth, der Asien-Koordinator der Diakonie Katastrophenhilfe. „Man muss von einer neuen Katastrophe ausgehen“, bestätigt Raphael Marcus, der Leiter der Not- und Katastrophenhilfe bei Humedica, der unmittelbar nach dem ersten Beben selbst in Nepal war. „Wir hatten bereits erste Wiederaufbauprojekte und -maßnahmen diskutiert, jetzt wird es wieder um Katastrophenhilfe gehen“, sagt er.

    Mit dem Monsun steigt die Gefahr von Seuchen

    Heißt: Die Kaufbeurer Hilfsorganisation wird schon heute drei weitere Helfer nach Kathmandu schicken. Derzeit ist Humedica noch mit acht Leuten in Nepal, ein Teil davon war gestern in den Bergen unterwegs, um dort Verletzte zu behandeln. Sie alle haben das Erdbeben gesund überstanden.

    Aus Angst vor weiteren Erdstößen würde nun wohl kaum jemand mehr in sein Haus gehen, beschreibt Sanitäter Josef Riener die Situation. Unzählige Menschen leben und übernachten jetzt wieder im Freien. Obwohl die Nächte im Himalaya kalt sind und es von Tag zu Tag mehr regnet. Es beginnt der Monsun, der in einigen Wochen für noch mehr Niederschläge sorgen und die Situation verschärfen wird. Dann steigt die Gefahr durch verunreinigtes Trinkwasser und von Seuchen.

    „Wir brauchen jetzt vor allem Zelte“, sagt Wolfgang Straub. Wichtig sei beispielsweise, die provisorischen Unterkünfte besser gegen den zu erwartenden Starkregen zu schützen. Plastikplanen reichen als vorübergehende Dachkonstruktionen nicht aus. Wellblech-Platten seien nötig. „Mit einer Palette im Wert von 100 Dollar kann man da schon viel helfen“, sagt Riener. Eines jedenfalls ist sicher: Die Katastrophe in Nepal ist noch nicht vorbei. (mit dpa)

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