Vielleicht ist es eine berechtigte Hoffnung, vielleicht eine Illusion, vielleicht ist alles auch nur ein schlechter Witz. „Die Mauer des Schweigens beginnt zu bröckeln“, hat Pietro Orlandi Montagnacht auf Facebook festgehalten. Er meint damit die Geheimniskrämerei, mit der der Vatikan die Affäre um seine vor 34 Jahren spurlos verschwundene Schwester seit jeher handhabt.
„Wenn Papst Franziskus allen erlaubt zu reden, könnten wir endlich wissen, was sie mit meiner Schwester gemacht haben“, sagt der Bruder. Im Vatikan gebe es sehr viele Personen, die Bescheid wüssten, aber nicht sprechen dürften.
Der Fall Emanuela Orlandi ist eines der größten Mysterien des Kirchenstaates. Am 22. Juni 1983 verschwand die 15-jährige Tochter eines Vatikanangestellten in Rom auf dem Weg in die Musikschule. Orlandi war wie ihr Vater Vatikan-Staatsbürger und tauchte nie wieder auf.
Vatikan: Verschwinden von Emanuela Orlandi ist großes Justiz-Rätsel
Die Affäre ist seit 34 Jahren ungelöst und bleibt eines der großen Justiz-Rätsel in Italien, nachdem die Staatsanwaltschaft vor zwei Jahren letzte Ermittlungen eingestellt hat. Dass Pietro Orlandi nun wieder Hoffnung hegt, hat mit der Veröffentlichung eines Dokuments in den zwei großen italienischen Zeitungen Corriere della Sera und La Repubblica am Montag zu tun.
Das fünfseitige und auf März 1998 datierte Dossier trägt den Titel „Summarische Aufstellung der vom Vatikanstaat für die Staatsbürgerin Emanuela Orlandi getätigten Kosten“ und hat es in sich. Wenn das Papier authentisch sein sollte, dann legt es nahe, dass man im Kirchenstaat von 1983 bis 1997, also 14 Jahre lang und noch vor ihrem Verschwinden Informationen über das Mädchen sammelte, über ihren späteren Aufenthalt Bescheid wusste und Kosten für ihren Unterhalt übernahm. Es wäre so etwas wie ein unfreiwilliges Schuldeingeständnis, das alle offiziellen Dementis widerlegen würde.
Im Dokument werden Posten für eine Unterbringung in einem Mädchenheim in London aufgeführt. Die Rede ist von Klinikaufenthalten, Kosten in einer Gynäkologieabteilung und falschen Fährten, die gelegt worden seien. 483 Millionen Lire soll der Vatikan dem Dokument zufolge für Orlandi ausgegeben haben, heute wären das immerhin etwa 250.000 Euro. Besonders makaber klingt der Posten „Erledigung finaler Akte“ für 21 Millionen Lire im Juli 1997, die eigentlich nur den Tod des Mädchens bedeuten können. Von Belegen auf 197 Seiten, von denen im Papier die Rede ist, gibt es keine Spur.
Emanuela Orlandi: Vatikan bezeichnet Papier als Fälschung
Bislang war die Affäre Orlandi über Jahrzehnte von wilden Spekulationen gekennzeichnet, in denen wahlweise der Papstattentäter Ali Agca, Sexpartys mit Klerikern, Finanzskandale des Vatikans oder die römische Unterwelt eine Rolle spielten. Nun gibt es erstmals eine Akte zum Fall, die italienischen Enthüllungsjournalisten aus dem Vatikan zugespielt worden ist. „Ich weiß nicht, ob das Dokument falsch oder authentisch ist“, sagte Emiliano Fittipaldi, einer der Journalisten. Tatsache sei, dass dieses Dokument sich lange in einem Tresor des Kirchenstaats befunden habe.
Nach Insiderinformationen soll das Schreiben, das weder Unterschriften noch offizielle Stempel trägt, bei einem Einbruch im März 2014 aus dem Archiv der Präfektur für wirtschaftliche Angelegenheiten gestohlen worden sein.
Der Vatikan bezeichnete das Papier am Montag als Fälschung, die Informationen seien „völlig falsch und ohne Grundlage“. Auch die zwei hohen Kurienkardinäle, Giovanni Battista Re und Jean-Louis Tauran, die im Dossier als Adressaten angeführt werden und vor der Jahrtausendwende Schlüsselposten im Staatssekretariat, der Regierungszentrale des Vatikans, besetzten, bestritten die Echtheit des Dokuments. Verfasser soll der ehemalige und 2013 verstorbene Chef der Vatikan-Güterverwaltung Apsa, Lorenzo Antonetti, sein. Original oder Fälschung? Auch Pietro Orlandi sagt, er wisse nicht, was er glauben soll. „Sicher ist irgendetwas Uneingestehbares geschehen“, mutmaßt der 57-Jährige. Orlandi behauptet, bei seinen Nachforschungen vom Vatikan behindert worden zu sein. Solange man ihm nicht sage, wo seine Schwester begraben ist, werde er sie weiter suchen.