Das Mädchen kommt immer nur nachts, setzt sich immer an dasselbe Grab – und weint. Manche wollen gehört haben, wie die etwa 15-jährige mit schluchzender Stimme frage: "Warum hast du mich verlassen?" Dann verschwinde sie wieder spurlos.
Seit mehr als einer Woche hält die geheimnisvolle Friedhofsbesucherin nicht mehr nur die zentralanatolische Stadt Corum in Atem. Dort erzählen sich viele Leute, das Mädchen sei ein Geist oder eine Tote aus einem der Gräber. Und die Polizei will der Sache auf den Grund gehen, bevor die Situation außer Kontrolle gerät: Denn das "Mädchen von Corum", wie die Unbekannte in Medien genannt wird, ist inzwischen überregional bekannt geworden und lockt immer mehr Besucher an.
Mädchen ist immer wieder entwischt
Schwarze Kleidung und rote Schuhe trage die Unbekannte, wenn sie das Grab von Fatma Ciftci, einer 1982 gestorbenen Frau, aufsuche. Das wollen Augenzeugen auf dem Ulu-Friedhof im Stadtzentrum von Corum beobachtet haben. Ende April sei sie zum ersten Mal und seitdem mehrmals dort gesichtet worden. Wer sie aber ist und warum sie stets vor diesem Grab weint – niemand weiß es. Auch Friedhofsmitarbeiter nicht, die das Mädchen in einer Nacht gefilmt haben wollen – das Video zeigt nur eine schemenhafte Gestalt in der Ferne.
Friedhofswärter Fikret Yumutkan berichtete türkischen Medien sogar, er habe das Mädchen angesprochen, die Unbekannte sei jedoch wortlos davongerannt. Seine Kollegen und er riefen die Polizei.
Die Ermittler wollten bereits mit einer Spezialkamera, die sie an einen Baum direkt gegenüber von Fatma Ciftcis Grab montiert hatten, das Rätsel lösen. Und tatsächlich: Eines Nachts trafen sie die geheimnisvolle Besucherin auf dem Friedhof an. Doch sie entwischte ihnen. So etwas habe er noch nie erlebt, sagte Bürgermeister Zeki Gül der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu.
Friedhofswärter Fikret Yumutkan versuchte es auf andere Art als die Polizei – und zwar mit einer Botschaft auf einem Blatt Papier, das er an dem Grab ablegte. Die Unbekannte solle doch bitte mit den Behörden Kontakt aufnehmen. Er legte Kugelschreiber und Schreibblock daneben. Bisher ohne Erfolg.
Polizei muss Friedhof absperren
Das "Mädchen von Corum", einer Stadt mit 200.000 Einwohnern rund 200 Kilometer nordöstlich von Ankara, zieht in diesen Tagen immer mehr Menschen auch von auswärts an. Bis vor kurzem noch machten sie es sich abends zwischen den Gräbern gemütlich. Mit Picknick-Körben und Taschenlampen warteten sie auf das angebliche Gespenst. Manche brachten für alle Fälle einen Knüppel mit. Als schließlich bis zu 300 Menschen in der Dunkelheit auf dem Friedhof herumstapfen wollten, sperrte ihn die Polizei ab. Vier junge Männer, die trotz des Verbots über die Friedhofsmauer kletterten, wurden festgenommen. Die Schaulustigen müssen nun hinter gelben Absperrbändern vor dem Friedhof ausharren.
Vor dessen Eingangstor bieten mittlerweile Imbissverkäufer ihre Waren an, auch tagsüber kommen schon Menschen. Es gehe zu wie auf einem Jahrmarkt, kommentierte eine Zeitung. Das "Mädchen von Corum" aber hat sich seit einigen Nächten nicht mehr gezeigt.
Den Spekulationen über die Identität der jungen Frau tut das keinen Abbruch. Im Gegenteil. Handelt es sich also um ein Gespenst? Oder um einen Menschen? Ömer Sen, der seit 15 Jahren auf dem Friedhof von Corum Gräber aushebt, kann nur verständnislos mit seinem Kopf schütteln. Er vermute, sagte er dem Sender Habertürk, das Mädchen sei drogenabhängig und suche Zuflucht auf dem Friedhof. "Ich hab' jedenfalls noch nie einen gesehen, der aus seinem Grab gestiegen und herumgelaufen ist."