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München-Paris: Auf der Suche nach der Liebe - im Nachtzug nach Paris

München-Paris

Auf der Suche nach der Liebe - im Nachtzug nach Paris

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    Mit dem Nachtzug nach Paris. Das ist eine günstige Reisemöglichkeit für Verliebte. Doch ist Paris nicht nur ein mögliches Ziel von vielen?
    Mit dem Nachtzug nach Paris. Das ist eine günstige Reisemöglichkeit für Verliebte. Doch ist Paris nicht nur ein mögliches Ziel von vielen? Foto: Französisches Fremdenverkehrsamt/gms

    Das einzige Paar, das ich auf der Reise im Nachtzug von München nach Paris treffe, droht mit dem Anwalt. „Seid ihr Liebende auf dem Weg nach

    Von Augsburg nach Paris: Nachtzug "Cassiopeia"

    Um 23.20 Uhr betrete ich in Augsburg den Nachtzug Cassiopeia. Cassiopeia – wie das Sternbild. Kurz blicke ich nach oben: Wolken verdecken den Nachthimmel. Kein Stern ist zu sehen. Den Rucksack bringe ich ins Liegeabteil. Pritsche, Ecktisch und Vorhänge in ausgewaschenem Sehnsuchtsblau sind sicher und kühl angeordnet. Meine Blicke gleiten darüber hinweg, das Gepäck landet auf dem Teppich und eine Schlüsselumdrehung später stehe ich am Beginn meiner Suche nach Liebe, Mythos und Klischee durch die schwäbische Nacht. Nächster Halt: Günzburg.

    Linzer Pfadfinder reisen nach Paris

    Das Licht ist perfekt. Romantisch genug für scheue Küsse in den versteckten Winkeln abseits der Glastüren. Schummrig genug, für ein paar liebevolle Worte unter Paris-Reisenden. Die drei Österreicher, die mir den Weg versperren, könnten in einer komplizierten Dreiecksbeziehung stecken: Frau, Mann, Frau. Etwas anders als im französischen Film der 60er-Jahre. Da waren es immer zwei Männer, die in Paris um eine Frau kämpften wie in „Die Außenseiterbande“ oder „Jules und Jim“. Liebe verläuft nicht geradlinig wie Gleise, versuchen uns die Filme zu sagen. Die drei Österreicher lehnen jedenfalls locker an den Bordwänden und flachsen wie die Lebemenschen bei Godard und Truffaut. Liebende? Ménage-à-trois? Nein. Sie lachen und ihre mittig mit Knoten gebundenen Halsbänder verraten, dass sie aus einem ganz anderen Grund nach Paris reisen. Sie leiten eine Linzer Pfadfindergruppe. Die „Kids“ schlafen und die Betreuer haben Zeit für sich.

    Wieso Paris als Stadt der Liebe?

    Aber irgendwann einmal, ohne die anderen Betreuer und die Kids, wäre dann nicht ein Liebesurlaub in Paris, eine Fahrt im Nachtzug das Schönste, was sie sich vorstellen können? Bei einem Heiratsantrag vor dem Eiffelturm müsste sie „speibn“, sagt die junge Frau, die ihre blonden Haare kurz und den Knoten am lockersten gebunden trägt. Sie erzählt eine Geschichte aus ihrer Heimat. Ein Linzer hat für seine Freundin den Heiratsantrag als Kinotrailer inszeniert, während sie unwissend in der Vorstellung saß. Der Trailer war zu Ende und er stand vor ihr mit dem Ring. „Das war romantisch.“ Paris? Das könne überall auf der Welt geschehen.

    Liebe - Sicherheit und Geborgenheit im Alter

    Als ich Jong-Hyun Park kennenlerne, steht er allein am geöffneten Schiebefenster vor meinem Abteil. Er ist Molekularbiologe, erfahre ich später. Ein Professor: perfekt rasiert, trägt Brille und volles, graumeliertes Haar. In der Schweiz diskutierte er mit anderen Wissenschaftlern auf einem Kongress über DNA, Krankheiten und Evolution. Im Nachtzug nach Paris spricht er lieber über europäische und asiatische Kultur, über die niemals enden wollenden Wälder Zentraleuropas und über seine Frau, die am Ende einer etwa 9000 Kilometern langen Luftlinie auf der anderen Seite der Welt wartet. Er schickt ein Foto mit dem Smartphone. Sie schickt uns Grüße aus Seoul. Und dann spricht er doch über die Liebe. Eine Hochzeit in Südkorea sei seit jeher etwas Pragmatisches. Seine Studenten und die jüngere Generation verliere aus den Augen, dass Liebe Sicherheit und Geborgenheit im Alter bedeuten kann. Das versuche er, ihnen ab und zu ins Gedächtnis zu rufen. Mittlerweile gewinne das europäische Liebesideal die Oberhand und Männer suchen und suchen nach der einen Richtigen. Wenn das Alter sie einholt, zieht es manch einen zu vietnamesischen Frauen, die sich nach südkoreanischem Wohlstand sehnen. Für Park ist die Stadt mehr Zwischenstation als Traumziel. Mit dem Taxi wird er ab Gare de l’Est sofort zum Flughafen Charles de Gaulle fahren – zurück zu seiner Frau nach

    Nachtzüge aus Hamburg und Berlin fahren auch nach Paris

    Zwei Uhr nachts: Cassiopeia ruht am Bahnhof Mannheim. Auf einer Bank vor den Gleisen warten die Zugbegleiter auf die Ankunft von Perseus aus Berlin und Andromeda aus Hamburg. Aneinander gekoppelt reisen die Nachtzüge als mythologisches Dreiergespann weiter nach Paris. In der griechischen Götterwelt hat Held Perseus exakt im richtigen Moment Andromeda vor dem Meeresdrachen des grollenden Poseidon gerettet, der wütend darüber war, dass Mutter

    "Der Liebe ist sie im Arbeitsalltag nie begegnet"

    Ich setze mich auf die Bank an den Gleisen. Die Zugbegleiterin hat es sich vor den dunklen Fenstern des Nachtzugs gemütlich gemacht und schlürft eine Instant-Hühnerbrühe aus dem braunen Automatenplastikbecher. „Was will man machen“, sagt sie beinahe entschuldigend, obwohl wir beide wissen, dass sie nichts für die Verspätung und ich nichts für die Abwesenheit der Verliebten kann. Auch bei anderen Nachtfahrten nach Paris nehme sie kaum Paare wahr, sagt die Mittfünfziger, ganz in Nachtblau – die Farbe der Bahnuniform. Viele Jahre arbeitet sie auf dieser Strecke. Der Liebe ist sie im Arbeitsalltag allerdings nie begegnet. Auch in ihrem Leben sei dafür kein Platz. Sie stellt den leeren Plastikbecher zur Seite, streift die Uniform glatt und erzählt. 2002, als die Flut in Ostdeutschland über Nacht ganze Landstriche zerstört, ist sie gerade auf dem Heimweg von Rom. Die Nachricht erreicht sie aus heiterem Himmel. Das Wasser habe ihr Haus weggespült. „Dann begann alles bei null“, erzählt sie. Kurze Zeit zuvor habe sie sich von ihrem Mann getrennt.

    Paris - nichts anderes als eine Stadt?

    Dass ich mich anfangs über die Liebenden im Nachtzug unterhalten wollte, ist zu diesem Zeitpunkt des Gesprächs längst nebensächlich. Romantische Verklärung und die Illusion einer Liebesreise gibt es zwischen München und Paris für sie nicht. Als sie in der DDR aufwächst, ist an Reisen nach Paris nicht zu denken. Heute fährt sie mehrmals wöchentlich. Liebe und Geborgenheit? Beginnt auf der Heimfahrt in ihr sächsisches Dorf. Dort stehe wieder ein Haus und die Dorfgemeinschaft unterstütze einander.

    "Wenn alles bei Null beginnt"

    Perseus fährt quietschend ein und übertönt das Zirpen der Grillen. Mitte Dezember stellt die Bahn den Nachtzugverkehr nach Paris ein, erzählt die Zugbegleiterin. Welche Strecke sie dann fährt? „Keine Ahnung.“ Vielleicht ist es dann wie nach der Flut oder am Ende der Liebe. Plötzlich beginnt alles bei null.

    Paris, als eines von vielen Zielen

    Rainer war schon zweimal in Paris. Einmal mit seiner Mutter, einmal mit dem Kegelverein, erzählt er. Er steht in einem stillen und dunklen Gang, seine Hände auf den schmalen Fensterrand gestützt, und schaut hinaus in die vorbeiziehende Landschaft, die kaum zu sehen ist. Mittlerweile tappen keine Schlaflosen mehr durch die Gänge, um Bier am Servicezimmer zu ordern. Rainer macht den Eindruck, als genieße er die Stille. Er fährt allein, lebt allein und wenn ihn das Fernweh packt, sucht er Freitagnachmittag nach einem freien Platz im Zug und steigt Stunden später ein. An diesem Abend fährt er im leisesten und dunkelsten Abteil. Rainer ist jenseits der 40 und unauffällig. Ein Mensch, den man im Vorbeigehen nicht wahr nimmt. Er verliert keine großen Worte über seine Pläne. Auf die Frage, was er sonst macht, antwortet er: „Normaler Lagerist.“ Paris sei für ihn wie alle Fahrten nur eines von vielen Zielen. Dann hält er inne. „Einmal habe ich die Fahrt für mich und eine Frau gebucht, die mir gefiel. Aber das war noch nichts Festes. Zwei Tage vor der Abfahrt hat sie einen anderen gefunden.“ Rainer geht zurück in sein Abteil.

    Verliebte besiegeln ihre Bindung mit Vorhängeschlössern

    Gegen 11.30 Uhr fährt die Bahn am Gare de l’Est ein. Mittagshitze. Entlang des Bahnsteigs strömen die Pfadfinder, Wissenschaftler und Alleinreisenden Richtung Innenstadt. Vielleicht auch dorthin, wo zuletzt ganze Brückengeländer am Pont des Arts kollabierten. Bis heute besiegeln Verliebte ihre Bindung mit Vorhängeschlössern über der Seine.

    Nachtzug ist eine günstige Reisemöglichkeit

    Das Paar, das halb scherzhaft mit dem Anwalt drohte, wechselt das Gleis. Die Fahrt geht weiter, zu ihren Eltern in den Südwesten Frankreichs. Er sei zum ersten Mal dabei, sagt sie und erzählt in sehr rational von der günstigen Möglichkeit im Nachtzug zu reisen, und dass man in Frankreich nun mal immer über Paris fahren müsse.

    Das Klischee der "Stadt der Liebe" ist zerbrochen

    Paris, das Ziel der Liebe und des Fernverkehrs. 800 Kilometer und zwölf Stunden später staune ich darüber, wie hartnäckig sich dieser Mythos am Leben hält. Vielleicht nehmen Verliebte mittlerweile den Billigflieger. Vielleicht habe auch nur ich nicht die Liebe auf der Fahrt nach Paris aufgespürt. Vielleicht war selbst das Sehnsuchtsblau der Vorhänge nur ein flüchtiger Eindruck. Sicher gibt es sie irgendwo auf dem Weg nach Paris. Nur nicht dort, wo man sie vermutet. In dieser Nacht ist ein Klischee auf die schienengerade Realität einer Zugfahrt getroffen und daran zerbrochen. Ganz so, als hätte es den Kuss im Halbdunkel des Gangs nie gegeben.

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