Geht noch mehr? Klar, Chris Martin könnte auch mit Raketenrucksack durch die Arena fliegen, wie es schon Michael Jackson gemacht hat, oder am Bungee-Seil vom Bühnendach stürzen wie einst Robbie Williams, oder gleich an dreidimensional beweglichen Seilzügen aufgehängt, Salti schlagend den Raum über den Köpfen der Zuschauer durchschweben wie bereits Pink – aber als Stars der Bodenständigkeit, die eben nicht abheben, und die diese vier Briten ja sind, schöpfen Coldplay auf dieser Welttournee die Klaviatur der Show-Elemente so lustvoll und effektsicher aus wie sonst wohl niemand derzeit.
Nach eineinhalb Jahren und rund hundert Shows in aller Welt ist es an diesem Dienstagabend das Münchner Olympiastadion, das sich – nasskaltes Gruselwetter hin oder her, verschärfte Sicherheitsvorkehrungen am Einlass vergessen – für zwei Stunden in einen sommerlich idyllischen Farbrausch verwandelt. Da wäre auch so manches für Helene Fischer dabei, die in ihren Konzerten ja auch schon Robbie Williams und Pink kopiert hat. Beim Erfolgskonzept dagegen wird sich das der Königin des deutschen Popschlagers, im Vergleich mit diesen britischen Weltstars des Schlager-Pop, als zukunftstauglicher erweisen. Denn eine Band wie Coldplay wird es aller Voraussicht nach nicht mehr geben, Stars wie eine Fischerin in globalem Format dagegen immer mehr, in allen Spielarten des Pop.
Zu Maria Callas’ berührender Arie „O mio babbino caro“ treten Chris Martin, Will Champion, Guy Berryman und Jonny Buckland vor 65000 Menschen in München, wie sie es zuvor eben in Tokio und Sao Paolo, New York und Sydney, vor einem Jahr auch schon in anderen deutschen Stadien getan haben, und noch weitere 42 Male, dieses Jahr etwa in Frankreich, Schweden, Wales und Kanada, tun werden. Danach ertönt auch noch Charlie Chaplins große Rede auf die Menschlichkeit aus „Der große Diktator“ – aber dann geht es los mit „A Head Full of Dreams“, dem Titelsong des aktuellen und siebten Werks der Band, die sich damit über die Schwelle von 80 Millionen verkauften Alben geschoben hat.
Und schon spuckt die Bühne ein Feuerwerk, schon knallt buntes Konfetti aus den Kanonen, und schon beginnen wie davon und vom blumenbunten Bühnenschmuck infiziert die tausenden Armbänder im vollen Oval vielfarbig und rhythmisch zu blinken. Coldplay nämlich machen ihre Fans wieder zum Teil der Inszenierung – wie schon bei der letzten großen Tour vor der Livepause zum Traueralbum Chris Martins nach der gescheiterten Ehe mit Star-Schauspielerin Gwyneth Paltrow „Ghost Stories“. Also, Frau Fischer, aufgepasst: das Ich als funkgesteuertes Medium des gemeinsamen Farbrauschs, alle ganz Coldplay.
Coldplay in München: Eine weitere Pop-Band von diesem Format ist nicht in Sicht
Bevor sich nun die Klaviatur weiter entfaltet und zu immer wieder Feuerwerk und Konfetti bei „Fix You“ auch noch Feuerfontänen kommen, zu „Adventures of a Lifetime“ große, bunte Bälle ins Publikum purzeln, bevor die Band über den langen Steg in die Menge und eine zusätzliche Bühne in deren Mitte auch Nähe zum Publikum herstellt, bevor Chris Martin sich dabei einen jungen Mann herauspickt, um sich von ihm, einem Ferdinand aus Nürnberg, am Piano solo zu „Everglow“ begleiten zu lassen, bevor also die ganze Show-Maschine läuft und der Hit-Reigen von „Paradise“ über „Viva la Vida“ bis zu „A Sky Full of Stars“ einsetzt, bevor die Band noch Aufnahmen für das Video zum neuen Song „Something Just Like This“ live dreht, bevor eine Friedensrede Muhammad Alis und das von Barack Obama zum Terroropfer-Gedenken gesungene „Amazing Grace“ eingespielt werden, und bevor, ganz am Schluss, nach dem mäßigen „Up&Up“, statt Zugaben auf der Bühne nur noch die Namen aller an der Darstellung Beteiligten über die größte der drei Leinwände dort flirren, bevor also diese prächtige Popshow wie ein unmittelbares Überwältigungstheater ins Rollen kommt und doch wie ein bloß konsumierter Film endet – vor all dem spielen Coldplay „Yellow“.
Es ist der Song, mit dem die Band den ersten Treffer gelandet hat. Es war das Jahr 2000, und bereits da tönten die typische Gitarre von Jonny Buckland und die charakteristische Kopfstimme von Chris Martin, die der auch jetzt, mit inzwischen 40, perfekt in den Münchner Nachthimmel schickt. Aus vier Londoner Studenten waren Freunde, war eine Band geworden, wie es so oft zuvor in der Pop-Geschichte geschehen war. Coldplay wurden noch in spätem Erbe der Beatles, als Nachfolger von Police und U2, zu einer Band von Weltruhm, deren Hymnen eigentlich ganz einfach auf das Miteinander von drei Instrumenten und einer Stimme, mit immer dem gleichen Personal, bauten.
Damit eroberten sie die Stadien in aller Welt. Aber wer sollte das in der Nachfolge von Coldplay nun noch tun? Der Pop hat sich musikalisch und inszenatorisch davon wegentwickelt. Alles ruht auf elektronischen Dance-Rhythmen, Sounds werden produziert, der Star als Marke ist in aller Regel eine Einzel-Erscheinung oder höchstens noch eine gecastete Sänger-Tänzer-„Group“ – nichts, was noch aus dem gemeinsamen Bandproberaum in den Pophimmel wachsen könnte – und die großen Stadien werden in Zeiten des digital immer weiter ausfransenden Musikmarktes ohnehin zu Refugien des absoluten Olymps, der Legenden und Ausnahmeerscheinungen, von Beyoncé über U2 bis zu Helene Fischer. Vielleicht kann dazu bald ein geerdeter Ed Sheeran vorstoßen – aber Bands?
Pop-Entdeckungen der vergangenen Jahre waren The XX und Twenty One Pilots, die einen Briten, die anderen Amerikaner, beide mit klassischer Band-Geschichte, talentiert, charakteristisch im Stil, mit Milliarden Klicks im Netz und auch bereits weltweit live auftretend. Aber konstant wachsend bis in die großen Stadien, generationsprägend? Nicht mehr vorstellbar. Die Fischerinnen im Weltformat werden obsiegen, auch wenn sich Chris Martin und Co bereits Richtung elektronischer Grundierung gewandelt haben. Was da noch kommt? Nach dem Erscheinen von „A Head Full of Dreams“ sagte der Kopf der Band vor eineinhalb Jahren, mit diesem siebten Album ende das Bisherige. Die Fanfurcht war groß: Schon Schluss mit Coldplay? Vielleicht meinte Martin aber auch nur die Gestalt von Sound und Gruppe. So oder so: Die Pop-Ära könnte also noch schneller vorbei sein.
Auch Green Day waren in München. Hier unser Artikel dazu: Green Day in München: Friede, Freude – Fuck!