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Mordserie der Neonazis: Fragen im Heimatort: Warum musste Polizistin Michèle sterben?

Mordserie der Neonazis

Fragen im Heimatort: Warum musste Polizistin Michèle sterben?

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    Fragen im Heimatort: Warum musste Polizistin Michèle sterben?
    Fragen im Heimatort: Warum musste Polizistin Michèle sterben?

    Es ist ein Kommen und Gehen auf dem kleinen Friedhof im südthüringischen Oberweißbach. Zum Totensonntag werden die Gräber geschmückt, die an einem Hang gegenüber der imposanten "Hoffnungskirche" liegen. Auf dem Grab mit dem Bild einer 22-Jährigen mit langen, dunklen Haaren stehen frische weiße Blumen. Ein Herz aus Moos liegt auf der Steinplatte, die Erde ist mit Erika bepflanzt und sorgfältig mit Blautanne abgedeckt. Aufgewühlt sind die Gemüter vieler Menschen in der kleinen Stadt im Thüringer Wald, in der Michèle Kiesewetter aufwuchs und die Entscheidung traf, Polizistin zu werden. Viereinhalb Jahre nach ihrem Tod wird klar, sie wurde im Polizeidienst in Heilbronn das Opfer von Neonazis, die ebenfalls aus Thüringen stammen.

    In den vergangenen Tagen stürmten auf ihre Familie, die so lange im Unklaren über die brutalen Täter vom April 2007 blieb, immer neue Informationen ein. Zunächst wurde die Dienstwaffen der jungen Polizistin und ihres schwerverletzten Kollegen im Wohnmobil von zwei toten Bankräubern in Eisenach gefunden.

    Am hellichten Tag in den Kopf geschossen

    Dann der Paukenschlag: Die Bundesanwaltschaft macht eine rechtsextreme Gruppe aus Jena, die 1998 untertauchte und von Zwickau aus agierte, für den Mord an der Polizistin und eine Mordserie an acht türkischstämmigen und einem griechischen Kleinunternehmer verantwortlich. Die Täter schossen ihren Opfern am helllichten Tag in den Kopf und hinterließen kaum Spuren. In einem Bekennervideo zeigen die Killer auch die Dienstpistole von Michèle - wie eine Trophäe.

    Diese Dimension des Falls, von rechtem Terrorismus und Ermittlungspannen ist die Rede, wird in Oberweißbach viel diskutiert. "Das zieht noch große Kreise", glaubt eine 68-Jährige aus dem Fremdenverkehrsort mit den schieferverkleideten Häusern. "Aber so schrecklich es ist: Zumindest ist die Unsicherheit für die Familie vorbei, wer das Mädchen ermordet hat."

    Warum die Neonazis die junge Frau erschossen, ist ungeklärt. Oberweißbach, bekannt durch die Bergbahn und den Kindergarten-Erfinder Friedrich Fröbel, gilt nicht als Hochburg der Rechten. "Sie hatte mit Sicherheit mit diesen Leuten nichts zu tun", sagt eine Angestellte aus dem Buchladen am Markt. In den Thüringer Verfassungsschutzberichten kommt Oberweißbach nicht vor. Auch Anti-Rechts-Aktivisten haben nichts Auffälliges gehört.

    Belegt ist durch die Anfrage eines Landtagsabgeordneten lediglich, dass es im März 2006 in der Nähe ein Treffen einiger führender Thüringer NPD-Leute mit Rechten aus Baden-Württemberg, Berlin, Hessen, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern gab - in einer Gaststätte im Nachbarort Lichtenhain. Ob die damals 21-Jährige, die in Böblingen bei der Bereitschaftspolizei arbeitete, zu diesem Zeitpunkt in der Heimat war, ist nicht sicher.

    Engagierte Polizistin

    Die Zwickauer Terrorzelle - Chronologie der Ereignisse

    Freitag, 4. November: Am Vormittag überfallen zwei Männer eine Bank im thüringischen Eisenach und fliehen. Während der Fahndung stoßen Polizisten auf zwei Leichen in einem Wohnmobil. Beamte hatten Hinweise erhalten, dass ein Caravan bei dem Überfall eine Rolle gespielt haben könnte.

    Samstag, 5. November: Ermittler untersuchen die Schusswaffen, die in dem Wohnmobil gefunden wurden.

    Montag, 7. November: Unter den Pistolen im Wohnwagen sind die Dienstwaffen der im April 2007 in Heilbronn getöteten Polizistin Michele Kiesewetter und ihres schwer verletzten Kollegen. Die später identifizierten Männer Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, deren Leichen entdeckt wurden, sollen den Banküberfall begangen haben. Sie sollen zusammen mit einer Frau in einer Wohnung in Zwickau gelebt haben, die wenige Stunden nach dem Banküberfall explodiert war. Nach der Frau, Beate Zschäpe, wird gefahndet.

    Dienstag, 8. November: Die bundesweit gesuchte Beate Zschäpe stellt sich der Polizei in Jena. Spekulationen kommen auf, dass die mutmaßlichen Bankräuber eine Verbindung in die Neonazi-Szene gehabt haben könnten. Sie und die verdächtige Frau sollen in Thüringen als rechtsextreme Bombenbauer in Erscheinung getreten sein.

    Mittwoch, 9. November: Zschäpe sitzt in U-Haft und schweigt. Nach Aussage von Thüringens Innenminister Jörg Geibert hatten die Männer bis 1998 Verbindungen zum rechtsextremen Thüringer Heimatschutz - danach jedoch nicht mehr. Polizei und Staatsanwaltschaft in Sachsen machen die Frau zunächst nur für die Explosion des Wohnhauses in Zwickau verantwortlich.

    Donnerstag, 10. November: In den Trümmern des abgebrannten Hauses in Zwickau werden weitere Schusswaffen gefunden.

    Freitag, 11. November: Es ist die spektakuläre Wende in dem Fall: Unter den Waffen ist die Pistole, mit der zwischen 2000 und 2006 neun Kleinunternehmer erschossen wurden - Türken, ein Grieche und Deutsche mit Migrationshintergrund. Außerdem entdecken Fahnder rechtsextreme Propaganda-Videos. Diese beziehen sich auf eine Gruppierung mit dem Namen Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) und enthalten Bezüge zur Mordserie. Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe übernimmt die Ermittlungen.

    Sonntag, 13. November: Die Bundesanwaltschaft geht erstmals ausdrücklich von Rechtsterrorismus aus. Der Bundesgerichtshof erlässt  Haftbefehl gegen Zschäpe wegen des dringenden Tatverdachts «der Gründung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung». In Lauenau bei Hannover wird ein mutmaßlicher Komplize festgenommen. Holger G. soll dem Neonazi-Trio 2007 seinen Führerschein und vor etwa vier Monaten seinen Reisepass zur Verfügung gestellt haben. Die Rolle des Verfassungsschutzes in dem Fall ist unklar. Politiker fragen, warum die Rechtsextremen, die unter Beobachtung standen und schon 1998 in Jena als Bombenbauer auffielen, so lange unbehelligt blieben.

    Montag, 14. November: Justizministerin Sabine Leutheusser- Schnarrenberger sagt, die Strukturen des Verfassungsschutzes sollten auf den Prüfstand gestellt werden. Ihre Frage: «Was mich wirklich umtreibt, ist: Gibt es ein fester gefügtes rechtsextremistisches Netzwerk in Deutschland als bisher angenommen wurde?».

    Donnerstag, 17. November: Der hessische Verfassungsschutz dementiert einen Bericht, ein 2006 suspendierter Mitarbeiter habe einen V-Mann beim rechtsextremen Thüringer Heimatschutz geführt. Der Verfassungsschützer war 2006 in einem Internetcafé in Kassel gewesen, kurz bevor dort die tödlichen Schüsse auf den türkischstämmigen Betreiber fielen.

    Freitag, 18. November: Die Terrorzelle ist möglicherweise größer als bisher bekannt. Ermittler haben zwei weitere Personen im Visier. Sie sollen Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe unterstützt haben. Nach mehreren Ermittlungspannen in der Vergangenheit wollen Bund und Länder mit besseren Strukturen auf den über Jahre unentdeckten rechtsextremistischen Terror reagieren.

    Dienstag, 29. November: Fahnder nehmen den früheren NPD-Funktionär Ralf W. fest. Er soll ein weiterer mutmaßlicher Unterstützer der terroristischen Vereinigung «Nationalistischer Untergrund» (NSU) sein.

    Manche in Oberweißbach wollen gehört haben, die engagierte Polizistin habe eine Aussage gegen Rechte gemacht. Belege? Nein. Andere wie Karin Fünfstück, Inhaberin der Glasboutique an der Hauptstraße, glauben, Michéle war verdeckte Ermittlerin. "Das denken viele", sagt sie. "Wissen wird man es nie." Nach ihrer Ermordung hatte es in Baden-Württemberg Medienberichte gegeben, sie sei zumindest einmal in zivil in der Drogenszene eingesetzt gewesen.

    Es gebe keine Anhaltspunkte, dass ihre Ermordung damit zu tun hat, dass Michéle Kiesewetter wie Mitglieder der Terror-Gruppe aus Thüringen stammt, erklärte kürzlich der Chef des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg, Dieter Schneider. Aus der erneuten Durchleuchtung ihres Umfeldes habe es "bisher kein Motiv für das Verbrechen gegeben".

    Eine Frau aus Oberweißbach, die nur ihren Vornamen Anita nennen will, glaubt eher an einen Zufall: "Sie war zur falschen Zeit am falschen Ort." Dafür spreche, das Michèle am Tag der Tragödie eigentlich Urlaub gehabt hätte, sich aber zum Dienst meldete. Über sie und ihre Familie wird in dem 1900-Einwohner-Ort freundlich und respektvoll gesprochen. Michèles Mutter ist vielen bekannt - sie arbeitet für einen Wohlfahrtsverband im Ort. Ihre Tochter, die mit 18 Jahren zur Polizeiausbildung nach Baden-Württemberg ging, erlebten viele von Kindesbeinen an. Die Buchhändlerin sagt: "Sie wollte uns immer beschützen." dpa/AZ

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