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Mittelmeer: Flüchtlingshelfer auf dem Mittelmeer geraten in Kritik

Mittelmeer

Flüchtlingshelfer auf dem Mittelmeer geraten in Kritik

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    Die „Sea Eye“ ist nicht für den Transport von Flüchtlingen gedacht. Wenn kein Schiff für die Bergung in der Nähe ist, finden die Menschen an Bord des ehemaligen Kutters Schutz.
    Die „Sea Eye“ ist nicht für den Transport von Flüchtlingen gedacht. Wenn kein Schiff für die Bergung in der Nähe ist, finden die Menschen an Bord des ehemaligen Kutters Schutz. Foto: Daniel Kempf-Seifried

    „Anfangs spielte Abenteuerlust sicherlich eine Rolle“, gesteht Thomas Nuding. Er lehnt sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und bläst langsam den Rauch seiner Zigarette aus. Nuding blickt auf seinen Computer, auf dem Bilder von hunderten Menschen in orangefarbenen Rettungswesten auf zwei Schlauchbooten zu sehen sind. Ihre Gesichter sind einem grün-weißen Schiff zugewandt, das sie aus ihrer gefährlichen Lage befreien soll.

    Das Bild entstand an Ostern, das Schiff ist die „Sea Eye“. Thomas Nuding aus Meßkirch im Landkreis Sigmaringen war zu diesem Zeitpunkt Kapitän des 26 Meter langen, ehemaligen Fischkutters. Er zieht wieder an seiner Zigarette. „Aber wenn man das erste Mal da draußen ist, ändert sich das. Das ist kein Abenteuer, da geht es ums Überleben“, erklärt der Ingenieur. In den Worten schwingt kein Pathos. Nudings Stimme klingt nüchtern, fast schon zu nüchtern in Anbetracht der Tatsache, dass er über das Leben und Sterben tausender Menschen spricht, die versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen.

    Flucht über das Wasser ist am gefährlichsten

    Die Flucht über das Wasser ist die gefährlichste, sagt das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen.
    Die Flucht über das Wasser ist die gefährlichste, sagt das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen. Foto: Claus-Peter Reisch (Archivbild)

    Nach Angaben des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen sind seit 2015 mehr als 1,5 Millionen Menschen auf dem Seeweg nach Europa gekommen. Seit der Schließung anderer Fluchtwege wie der Balkanroute ist der Weg über das Meer der einzig verbliebene. Dabei ist die Flucht über das Wasser laut der internationalen Organisation für Migration die gefährlichste: Mehr als 11.000 Menschen sind seit 2015 bei dem Versuch gestorben.

    95 Prozent der Flüchtlinge beginnen ihre Reise über das Mittelmeer von der libyschen Küste. „Die Startorte haben flache Sandstrände, daher sind die Schleuser wetterabhängig“, sagt Nuding. Das Meer muss ruhig sein, damit die Schlepper die Schlauchboote die ersten 50 Meter ins Wasser ziehen können. Laut Nuding legen die meisten Boote von Misrata im Osten und Sabrata im Westen der libyschen Hauptstadt Tripolis ab. Bis sie nach zwölf Meilen an die Grenze der libyschen Gewässer gelangen, beträgt der Abstand zwischen den Booten etwa 50 Kilometer. Auf dieser Strecke patrouillieren die humanitären Nichtregierungsorganisationen (NGOs), darunter auch die Schiffe der Regensburger Hilfsorganisation „Sea Eye“, für die Nuding aktiv ist.

    Schleuser schicken inzwischen hauptsächlich Schlauchboote los

    „Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss man unten sein“, sagt Nuding. Durchschnittlich zwei Wochen dauere eine Mission. Die neun Crewmitglieder starten in Malta und fahren von dort, beladen mit 750 Rettungswesten, 20 Rettungsinseln sowie ausreichend Wasser und Nahrung, 28 Stunden bis zum Einsatzort vor der libyschen Küste. Inzwischen kennt der 51-Jährige die Abläufe vor dem Auslaufen in Malta, wo im Hafen der Hauptstadt Valletta die meisten Schiffe vor Anker liegen.

    Als er im Oktober 2016 zu seiner ersten Mission aufbrach, wusste er nicht, was auf ihn zukommt. Nuding ist ein unaufgeregter Mann. In grüner Latzhose sitzt der Selbstständige in seinem Büro, umringt von Regalen, die mit hunderten säuberlich beschrifteter und farblich sortierter Ordner gefüllt sind. An den Wänden hängen Fotos früherer Segeltörns auf dem Atlantik.

    Deutsche Marinesoldaten und das Regensburger Hilfsschiff „Sea-Eye“ retteten im April vor der libyschen Küste hunderte Migranten im Mittelmeer aus Seenot.
    Deutsche Marinesoldaten und das Regensburger Hilfsschiff „Sea-Eye“ retteten im April vor der libyschen Küste hunderte Migranten im Mittelmeer aus Seenot. Foto: Bundeswehr, dpa (Archivbild)

    Er ist ein Schaffer, kein Schwätzer. Zu seinen Einsätzen auf dem Mittelmeer kam er zufällig. Seine Entscheidung, als Kapitän an Bord eines privaten Rettungsschiffes anzuheuern, war spontan. Im Newsletter seines Segelvereins hatte ein Mitglied seine Erlebnisse während einer Hilfsmission im Mittelmeer geschildert. „Da dachte ich: Das kann ich auch“, erklärt er (ein Interview mit einem "Sea Eye"-Helfer aus Augsburg lesen Sie hier).

    In der ersten Jahreshälfte 2017 sind nach Angaben des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen 85.000 Menschen über das Mittelmeer nach Italien gelangt. Das entspricht einem Anstieg um fast 20 Prozent in diesem Zeitraum im Vergleich zum Vorjahr. Die meisten stammen aus Nigeria, Bangladesch, Guinea, Gambia und der Elfenbeinküste. Etwa die Hälfte von ihnen schaffte es nur mithilfe einer der neun Hilfsorganisationen, die auf dem Mittelmeer unterwegs sind. Etwa 2500 Menschen ertranken. Die Dunkelziffer ist laut NGOs deutlich höher. Von der dreifachen Zahl an Toten ist die Rede.

    Während die Schleuser in den Vorjahren vorwiegend Holzboote auf das Mittelmeer schickten, werden inzwischen seeuntaugliche Schlauchboote für die Überfahrt verwendet. In den meisten Fällen wird diesen, sobald sie die Grenze der libyschen Gewässer erreichen, der Motor abgeschraubt. Die Boote sind somit antriebslos und manövrierunfähig, die darin sitzenden Menschen laut internationalem Seerecht in Seenot.

    Ändern die Schleuser ihre Strategie wegen der Seenotretter?

    Auch wenn die EU den Einsatz der NGOs lobt, sieht sie in ihnen auch einen Auslöser für den Strategiewechsel der Schleuser. Die Theorie: Würden die Hilfsorganisationen nicht entlang der libyschen Grenze fahren, würden die Schlepper auch keine minderwertigen Boote einsetzen. Die sizilianische Staatsanwaltschaft erhob den Vorwurf, dass NGOs mit Schleusern kooperieren und von ihnen finanziert werden (lesen Sie hier, wie das Milliardengeschäft der Schleuser funktioniert).

    Transponder sollen bewusst abgeschaltet worden sein, um die Schiffsposition zu verschleiern. Auch sollen Scheinwerfer Lichtsignale in Richtung libysche Küste gegeben haben, um Schlepper auf die Rettungsschiffe aufmerksam zu machen. „Das löst kein Vertrauen aus“, urteilte Bundesinnenminister Thomas de Maizière unlängst (lesen Sie hier mehr darüber, wie sich der Innenminister geäußert hat). „Im Moment ist die Instanz, die entscheidet, wer nach Europa kommen darf, eine kriminelle Organisation: die Schlepper“, sagte der Minister. Bei den Menschen, die derzeit übers Mittelmeer kommen, handele es sich vermehrt um Westafrikaner, die aus wirtschaftlichen Motiven nach Europa wollen. Anders als bei Schutzbedürftigen bestehe weder in Deutschland noch im Rest der EU die Bereitschaft zu deren Aufnahme.

    Das Resultat der NGO-Einsätze in den Augen der Kritiker: Mehr Tote im Mittelmeer, da mehr Flüchtlinge im blinden Vertrauen auf die patrouillierenden Rettungsschiffe den Weg Richtung Italien wagen. Trotzdem wird die EU vor der libyschen Küste weiter Migranten aus Seenot retten. Die Mitgliedstaaten stimmten gestern einstimmig einer Fortsetzung der 2015 gestarteten Operation „Sophia“ zu. Das Mandat umfasst neben der Entsendung von Marineschiffen ins zentrale Mittelmeer auch ein Ausbildungsprogramm für libysche Küstenschützer sowie Kontrollen des gegen Libyen verhängten Waffenembargos. Zudem sollen künftig auch Informationen zur Eindämmung illegaler Ölgeschäfte gesammelt werden.

    Italien verlangt einen Verhaltenskodex für Retter

    Die italienische Regierung will die Rettungseinsätze von NGOs im Mittelmeer an weitere Regeln binden (lesen Sie hier mehr darüber, wie Italiens Justiz gegen deutsche Rettungsaktionen ermittelte). Regierungsbeamte haben dafür gestern mit privaten Seenotrettern über einen Verhaltenskodex beraten, der klare Regeln für Rettungseinsätze festlegen soll. Der Entwurf des Regelkatalogs, der zwölf Punkte umfasst, hatte bereits im Vorfeld für Kritik gesorgt. Hilfsorganisationen erklärten, dass sich ihre Einsätze ohnehin in einem von italienischen Behörden und internationalem Recht vorgegebenen Rahmen bewegten.

    Der sogenannte „Code of Conduct“ soll die Hilfsorganisationen unter anderem dazu verpflichten, nur im äußersten Notfall in libysche Hoheitsgewässer einzudringen – so wie es auch das Internationale Seerecht vorschreibt. Den Helfern wird untersagt, Ortungsgeräte abzustellen. Außerdem sollen sie Behörden, auch der Kriminalpolizei, Zugang zum Schiff gewähren und ihre Finanzierung offenlegen.

    Den Flüchtlingsbooten nähern sich die Helfer in einem Schlauchboot.
    Den Flüchtlingsbooten nähern sich die Helfer in einem Schlauchboot. Foto: sea-eye.org

    Für kleine NGOs wird es sich mindestens in einem Punkt schwierig erweisen, dem Verhaltenskodex in seiner jetzigen Form zuzustimmen. Wer im Mittelmeer rettet, soll künftig auch selbst die Menschen an einen Hafen bringen. Organisationen mit kleineren Schiffen, wie auch die „Sea Eye“, die nicht für den Transport von einer Vielzahl von Menschen ausgelegt sind, geben Gerettete normalerweise an größere Schiffe ab und bleiben in der sogenannten Search and Rescue Zone nahe der libyschen Seegrenze.

    Kapitän Nuding hält die Anschuldigung, dass ihre Arbeit Mitschuld am Anstieg der Flüchtlingszahlen tragen soll, für haltlos. „Nichts tun bedeutet, wissentlich Menschen sterben lassen. Das wäre zwar eine Abschreckung, aber keine Alternative“, sagt der 51-Jährige. Studien belegen, dass die Zahl der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer seit Jahren kontinuierlich steigt. Die italienische Seenotrettungs-Operation „Mare Nostrum“ war im Oktober 2014 wegen ähnlicher Vorwürfe eingestellt worden.

    Doch auch, als nur Grenzsicherungsschiffe an der libyschen Küste kreuzten, die nach Schleusern Ausschau halten, brach der Flüchtlingsstrom aus Afrika nicht ab. „Solange die Fluchtursachen nicht bekämpft sind, werden die Menschen den Weg über das Mittelmeer wagen“, sagt Nuding. Der Gegenwind, der Nuding und anderen Flüchtlingshelfern entgegenschlägt, bringt ihn nicht von seinen Überzeugungen ab. „Wer mich als Fluchthelfer bezeichnet, dem entgegne ich: Lieber Fluchthelfer als Straftäter. Denn die Leute ertrinken zu lassen oder nach Libyen zurückzubringen, wären Straftaten“, schließt er und drückt die Zigarette aus. Im Oktober wird er wieder als Kapitän der „Sea Eye“ auf dem Mittelmeer Flüchtlinge vor dem Tod retten. mit dpa, AZ

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