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Interview: Missbrauchsfall von Staufen: Was bringt das Urteil dem Opfer?

Interview

Missbrauchsfall von Staufen: Was bringt das Urteil dem Opfer?

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    Die wegen Kindesmissbrauchs verurteilte Mutter nach der Urteilsverkündung: Sie muss lange in Haft.
    Die wegen Kindesmissbrauchs verurteilte Mutter nach der Urteilsverkündung: Sie muss lange in Haft. Foto: Patrick Seeger, dpa

    Die Mutter und der Stiefvater des missbrauchten Jungen sind zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Der Stiefvater kommt anschließend außerdem in Sicherungsverwahrung. Hat das Urteil Auswirkungen auf die Verarbeitung eines Traumas?

    Prof. Michele Noterdaeme: Ich denke schon. Das Urteil macht die Taten nicht ungeschehen, aber es ist ein Signal für das Kind, dass das, was ihm widerfahren ist, nicht rechtens ist und dass Menschen, die solche Sachen machen, auch bestraft werden. Es ist ein Baustein in der Verarbeitung von schwerem Missbrauch.

    Hat ein Kind, das derart schwer missbraucht wurde wie im Staufener Fall, überhaupt eine Chance auf ein normales Leben?

    Noterdaeme: Vergessen werden kann das Erlebte nicht. Man kann nicht davon ausgehen, dass man eine so schwere Traumatisierung aus der Lebensgeschichte des Kindes streichen kann, ohne dass etwas übrigbleibt. Ob solche Kinder später die Chance haben, ein ausgefülltes Leben zu führen, hängt von sehr vielen Faktoren ab. Das hat damit zu tun, wie das Kind jetzt aufgefangen wird, ob eine angemessene Traumatherapie stattfindet und es hängt auch mit der Persönlichkeit und dem Temperament des Kindes zusammen. Wir kennen aus der Forschung durchaus Kinder, die schwere Misshandlungen erleben und das Ganze relativ gut überstehen, ohne dass sie körperliche oder psychische Beschwerden entwickeln. Andere wiederum entwickeln schwere Verhaltensstörungen.

    Welche Faktoren sind besonders wichtig, damit Opfer das Erlebte verarbeiten können?

    Noterdaeme: Was durch den Missbrauch verloren geht, ist zum einen das Vertrauen in engste Bezugspersonen und zum anderen das Selbstvertrauen. Deshalb versucht man in der Therapie, wieder Vertrauen aufzubauen – die Pflegefamilie spielt also im Alltag eine große Rolle. Der andere Teil ist, wieder Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit zu entwickeln. Manche Kinder fühlen sich auf irgendeine Art Schuld an dem Erlebten und fühlen sich ohnmächtig. Das sind lange Prozesse.

    Ist es ratsam, Kinder, denen so etwas widerfahren ist, auch aus ihrem schulischen Alltag herauszunehmen, um ihnen einen Neuanfang zu ermöglichen?

    Michele Noterdaeme ist Chefärztin am Josefinum in Augsburg.
    Michele Noterdaeme ist Chefärztin am Josefinum in Augsburg. Foto: Josefinum Augsburg

    Noterdaeme: Man geht auf jeden Fall erst einmal weg vom schädigenden Umfeld, in dem Fall war das die Familie. Der wichtigste Schritt ist deshalb zunächst die Unterbringung in der Pflegefamilie. Ob man das weitere Umfeld belässt, hängt davon ab, wie das Kind dieses Umfeld erlebt hat. Hat das Kind Freunde in der Klasse, dann wird man versuchen, dieses Umfeld zu erhalten. War das Kind isoliert und aufgrund seiner Misshandlung in einer Außenseiterrolle, dann wird man durch einen Schulwechsel versuchen, diese negativen Einflüsse zu minimieren.

    Die verurteilte Mutter hat nach Angaben der Opferanwältin bisher keine Reue gezeigt, der Sohn spricht laut seiner Anwältin auch nicht über sie. Kann es trotzdem sein, dass er irgendwann wieder den Kontakt zu seiner leiblichen Mutter sucht?

    Noterdaeme: Das mag sein, ja. Im Vorfeld kann man nicht sagen, wie sich das entwickelt. Aus der Erfahrung mit jungen Patienten, die wir hier betreuen, kann nach einer Phase der Kontaktablehnung durchaus wieder eine Phase kommen, in der das Bedürfnis nach Kontakt und Aussprache da ist und die Jugendlichen die Konfrontation mit den Eltern suchen. Es gibt aber auch Kinder, die überhaupt keinen Kontakt mehr wünschen.

    Die leibliche Mutter wird voraussichtlich aus dem Gefängnis entlassen, wenn der Sohn 22 Jahre alt ist. Welche Rolle spielt dieses Wissen bei der Verarbeitung des Traumas?

    Noterdaeme: Das ist für die Betroffenen oft schwierig. Bei Patienten, die wir im Josefinum betreuen, sehen wir auch, dass zu dem Zeitpunkt der Freilassung ein Trauma wieder reaktiviert werden kann. In der Weiterentwicklungsgeschichte des Kindes wird man einen Umgang damit finden müssen – auch wenn dieser Umstand jetzt noch ganz weit weg ist. Man kann hoffen, dass zu der Zeit, in der die Freilassung der Mutter ansteht, wieder unterstützende Therapiesitzungen für den jungen Mann stattfinden.

    Im Freiburger Fall ist oft von Behördenversagen die Rede. Warum gestaltet sich die Kommunikation hier offenbar so schwierig?

    Noterdaeme: Es ist nie ganz einfach, verschiedene Systeme miteinander zu vernetzen. Ich würde sagen, dass es in der Regel ganz gut funktioniert, dass es aber auch wieder Ausnahmen gibt, wo die Kooperation zwischen den Systemen versagt. In der Regel lebt ein Grundschulkind in mehreren Systemen – in der Familie, der Schule und unter Gleichaltrigen. Es ist oft so, dass die Eltern schon nicht genau wissen, was in der Schule passiert und umgekehrt. Außerdem zeigen sich manche Probleme nicht unmittelbar, man braucht schon ein gewisses Feingefühl, um zu bemerken, dass in der Entwicklung eines Kindes plötzlich etwas schiefläuft. Da muss man die richtigen Stellen aktivieren, um dem Problem auf die Spur zu kommen. Das ist zugegebenermaßen kompliziert, weil so viele verschiedene Institutionen Anlaufstelle sein können, aber eben nicht müssen.

    Wie gehen Sie mit der Herausforderung um, dass Verbrechen mittlerweile oft im Darknet stattfinden oder zumindest beginnen?

    Noterdaeme: Neue Medien, Videos und eben das Darknet sind Felder, mit denen wir konfrontiert werden und von deren Gefahrenpotential wir häufig zu wenig wissen. Ich denke, dass wir in diesem Bereich noch viel Präventionsarbeit in den Bereichen Gewalt- und Sexualpädagogik anbieten müssen. Dass es existiert, können wir nicht ändern. Aber die Erziehung und den Umgang damit müssen wir vertiefen, da stehen wir noch ganz am Anfang. Wir müssen genau wissen, welche Gefahren hier auch für Kinder ausgehen.

    Zur Person: Prof. Dr. Michele Noterdaeme ist Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Josefinums in Schwaben mit den Standorten Augsburg, Nördlingen und Kempten.

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