Mehr als 700 Menschen kamen diese Woche bei einer Massenpanik bei der islamischen Wallfahrt in Mekka ums Leben. Katastrophen-Forscher Katja Schulze und Daniel Lorenz von der Freien Universität in Berlin erklären im Interview, warum sich Beteiligte in so einer Situation nur schwer selbst retten können - und wie eine Massenpanik entsteht.
Wie kommt es zu einer Massenpanik?
Lorenz: Aus der Forschung weiß man, dass Panik, Massenpanik erst recht, ein relativ seltenes Phänomen ist, das nur unter sehr spezifischen Bedingungen auftritt: wenn Menschen einer unmittelbaren Gefahr gegenüberstehen, eingeschlossen sind und sehr begrenzte Handlungsmöglichkeiten haben. Wenn sie sich selbst machtlos fühlen und die Situation sie sozusagen übermannt. Wenn Fluchtwege sehr begrenzt sind und Leute das Gefühl haben, handeln zu müssen.
Schulze: Wenn die eben beschriebenen Bedingungen gegeben sind, kann ein Auslöser in einer bestehenden Gefahrensituation alles sein, was ein Kippen der Situation zur Folge hat, zum Beispiel dass Rauch zu sehen ist oder das Licht ausgeht. Wenn die Leute dann desorientiert sind und sich ohne Kontrolle, ohne Information oder ohne Führung fühlen, kann die Situation eskalieren.
Lorenz: Ob bei der Katastrophe in Mekka so viele Menschen aufgrund einer Massenpanik ums Leben gekommen sind oder vielmehr die bauliche Konstellation und Fehler im Massenmanagement die Ursache waren, wird man sich sehr genau anschauen müssen.
Was passiert mit Menschen bei einer Massenpanik?
Schulze: Die Menschen sind in großer Gefahr. Sie kommen nicht raus. Sie wissen nicht wohin. Sie sehen, dass es dahinten irgendwo eine Fluchtmöglichkeit gibt. In solch einer Situation gibt es eine große Konkurrenz um Fluchtmöglichkeiten. Fehlende Kommunikation und fehlende Information sind ein großes Problem bei Massenpaniken. Wenn es dann auf einmal von hinten schiebt und vorne stockt, sind die Menschen in einer Art physikalischer Drucksituation. Sie werden erdrückt, sie können nicht atmen. Sie werden also nicht unbedingt totgetrampelt, wie es oft heißt.
Immer wieder Tragödien in Mekka
Tragödien überschatten immer wieder Pilgerfahrten nach Mekka. Ein Überblick:
Dezember 1975: In einer der Zeltsiedlungen für Pilger verursacht eine explodierende Gasflasche einen Großbrand. Dabei sterben 200 Menschen.
20. November 1979: Einige hundert saudiarabische Oppositionelle verbarrikadieren sich in der Großen Moschee von Mekka und nehmen dutzende Pilger als Geiseln. Bei der gewaltsamen Befreiung zwei Wochen später werden 153 Menschen getötet.
31. Juli 1987: Saudiarabische Ordnungskräfte gehen gegen eine unerlaubte Demonstration iranischer Pilger vor. Bei den Zusammenstößen sterben 402 Menschen.
2. Juli 1990: In einem Fußgängertunnel, der ins Mina-Tal führt, ersticken 1426 Pilger. Offenbar löste ein Ausfall der Belüftungsanlage eine Panik aus.
24. Mai 1994: 270 Pilger werden bei einer Massenpanik während der symbolischen Teufelssteinigung in Mina zu Tode gedrückt.
9. April 1998: Im dichten Gedränge bei der symbolischen Steinigung des Satans in Mina sterben 118 Pilger. Mehr als 180 Menschen werden verletzt.
1. Februar 2004: 251 Menschen sterben in einem Gedränge in Mina am ersten Tag der symbolischen Teufelssteinigung.
12. Januar 2006: Bei einer Massenpanik während der symbolischen Steinigung des Teufels in Mina werden 364 Gläubige getötet
11. September 2015: Beim Sturz eines Baukrans auf einen Innenhof der Großen Moschee von Mekka werden wenige Tage vor Beginn der Hadsch 107 Menschen getötet und etwa 400 weitere verletzt.
24. September 2015: Bei einer Massenpanik am Rande der symbolischen Teufelssteinigung in Mina werden mehr als 700 Menschen getötet und über 800 weitere verletzt.
Was kann man in solch einer Situation tun?
Lorenz: Die Betroffenen können kaum etwas machen. Das Problem ist, dass der Strom von Menschen immer weiter schiebt. Da kann man sich nicht dagegenstellen. Das einzige was man versuchen kann, ist die Situation nicht weiter zu verschärfen und gegebenenfalls anderen Leuten zu helfen. Aber von innen kann man die Situation kaum auflösen. Deshalb müssen Veranstalter rechtzeitig Auswege schaffen.
Schulze: Man kann nur versuchen, langsam zur Seite aus der Menschenmasse zu gehen. Um eine Situation nicht zu verschärfen: Keine Ketten bilden. Sich nicht einhaken. Das führt dazu, dass der Menschenstrom nicht weiter fließt. Außerdem sollte man schon im Vorhinein angespannte Situationen meiden.
Was kann man machen, um eine Massenpanik zu verhindern?
Lorenz: Der wichtigste Punkt ist, einen guten Überblick zu haben. Man muss genau wissen, wo wie viele Menschen sind, wie sich diese Menschen bewegen und wie schnell sie sind. Nur dann kann man gezielt kommunizieren. Wir haben bei der Loveparade 2010 gesehen, dass es dort ganz große Kommunikationsprobleme gab. Man hat hinten weitere Personen reingelassen, aber wusste nicht, dass es sich vorne staut. Und Kommunikation bedeutet auch, mit den Leuten in der Situation zu sprechen. Man muss auch die Besucher informieren, damit sie rechtzeitig einer gefährlichen Situation entgehen können.
Schulze: Ein positives Beispiel ist die Straße des 17. Juni in Berlin, wo viele Großveranstaltungen stattfinden. Dort gibt es offene Abgänge an allen Seiten, kanalisierte Zugänge und Kameras, um einen Überblick über die Situation zu behalten. Und es gibt eine gute Kommunikation auf allen Ebenen, um schnell Maßnahmen zu ergreifen.