Die Fassungslosigkeit über die 27-Jährige, die in Solingen fünf ihrer sechs Kinder getötet haben soll, sich dann vor einen Zug warf und dabei schwer verletzte, ist seit Tagen groß. Nur eines ihrer Kinder, ein Elfjähriger, überlebte. Sein Schicksal bewegt Menschen in ganz Deutschland. Zur Fassungslosigkeit sind nun Empörung, ja Wut hinzugekommen – über die Bild-Zeitung und RTL.
Eine RTL-Reporterin habe „mit einem seiner Freunde aus der Nachbarschaft im Beisein von dessen Mutter“ gesprochen, berichtete der Privatsender etwa auf seiner Internetseite unter der Überschrift „M.s Kumpel M. erhielt Schock-Nachricht über den Tod der Geschwister“. (Namen von unserer Redaktion abgekürzt) Der Freund ist zwölf Jahre alt. In einem anderen Artikel, der ebenfalls am Montagnachmittag noch abrufbar war, beschreibt RTL Sprachnachrichten, die der überlebende Elfjährige an eine Freundin geschickt habe mit den Worten: „Der Schock ist dem erst elf Jahre alten Jungen anzuhören...“ Auch Bild interviewte dessen zwölfjährigen Freund und veröffentlichte unter anderem WhatsApp-Nachrichten, die sich beide schrieben. „Witwenschütteln“ nennt man das in der Branche, und beschreibt damit die seit Jahrzehnten gängige Praxis von Boulevardmedien, Informationen von Hinterbliebenen mit fragwürdigen Methoden einzuholen – es wird Druck ausgeübt oder es fließt Geld. Mittlerweile gibt es offensichtlich auch ein „Kinderschütteln“.
Eichstätter Medienethiker: „Menschenverachtendes Handeln“
Klaus-Dieter Altmeppen, Journalistik-Professor an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und Experte für Medienethik, kritisiert die Bild- und RTL-Berichterstattung über Solingen im Gespräch mit unserer Redaktion scharf. Er spricht von einem „menschenverachtenden, jegliche Würde verhöhnenden Handeln“. Opfer der Berichterstattung dieser „sogenannten Journalisten können sich generell nicht wehren, weder bei den Interviews noch hinsichtlich der Artikel und ihres Inhaltes“. In diesem Fall gehe es um Kinder in einer kaum vorstellbaren Extremsituation.
Dem Deutschen Presserat lagen am Montagmittag bereits 51 Beschwerden zu dem am Freitag veröffentlichten Bild.de-Artikel „Mutter (27) hat fünf ihrer Kinder getötet: Freund M. telefonierte mit dem Sohn, der überlebte“ vor – und damit vergleichsweise viele. Die ersten Beschwerden erreichten die Freiwillige Selbstkontrolle der Print- und Onlinemedien noch am Freitag, und dann vor allem am Samstag. Kritisiert wird nach Angaben der Referentin für Öffentlichkeitsarbeit des Presserats, Sonja Volkmann-Schluck, vor allem Folgendes: Die Redaktion habe einen vertraulichen Chat veröffentlicht, in dem sich ein womöglich traumatisierter Minderjähriger an einen Freund wendet. Das Kind werde vorgeführt, obwohl es eigentlich Schutz bedürfe.
Wie in anderen Fällen auch, findet nun eine Vorprüfung statt. In Frage kommen, so Volkmann-Schluck, Verstöße gegen Richtlinie 4.2 des Pressekodex, wonach besondere Zurückhaltung bei der Recherche gegenüber schutzbedürftigen Personen geboten ist. Zudem stelle sich die Frage, ob die Redaktion den Persönlichkeitsschutz des Jungen nach Ziffer 8 verletzt hat und ob hier eine übertrieben sensationelle Berichterstattung nach Ziffer 11 vorliegt. Waren also die veröffentlichten Informationen von einem öffentlichen Interesse gedeckt?
Auf Twitter trendet der Hashtag #Drecksblatt
Journalisten anderer Medien kommentierten unmissverständlich: „Bild und RTL können tiefer nicht sinken“ (Süddeutsche Zeitung); „Jeder sollte dieses Blatt boykottieren“, forderte die taz – und meinte damit Bild-Leser, Bild-Journalisten, Unternehmen und Politiker: Bild-Journalisten sollten sich einen anderen Job suchen, Unternehmen keine Anzeigen mehr schalten, Politiker dem Blatt keine Interviews mehr geben. Auf Twitter trendete der Hashtag #Drecksblatt.
Medienethiker Klaus-Dieter Altmeppen wendet sich dagegen, Bild-Reporter namentlich oder gar mit Foto in sozialen Medien anzuprangern. „Ein breit getragener Boykott wäre eine sinnvolle Maßnahme“, sagt er aber. „Es wäre auch eine gute Idee, wenn es eine breite Mehrheit gäbe für eine Reform des Presserates, um ihm Sanktionspotenzial zu ermöglichen, das wehtut.“ Damit spielt er auf den Presserat als „zahnloser Tiger“ an, eine vielfach geäußerte Kritik an dem Selbstkontrollorgan.
Die Geschäftsstelle des Presserats und der Vorsitzende des Beschwerdeausschusses entscheiden vermutlich in den nächsten Tagen, ob ein Verfahren gegen die Bild eingeleitet wird. Sonja Volkmann-Schluck sagte dazu am Montagmittag, dass die Entscheidung aber „keinesfalls heute“ noch getroffen werden könne. „Leider liegt uns der vollständige Artikel noch nicht vor, da die Redaktion ihn bereits am Wochenende gelöscht hat.“
Presserat liegen bereits 51 Beschwerden von Lesern vor
Der weitere Verlauf: Der Presserat bittet das kritisierte Medium, in diesem Fall die Bild, um eine Stellungnahme. Dann befassen sich, wurde ein Verfahren eingeleitet, die Mitglieder eines Beschwerdeausschusses – Redakteure und Branchenverbandsvertreter – mit der Berichterstattung. Sie können einen Hinweis, eine Missbilligung oder eine nicht-öffentliche beziehungsweise öffentliche Rüge mit Abdruckverpflichtung aussprechen.
Mit dieser Selbstverpflichtung nimmt es gerade die Bild unter Chefredakteur Julian Reichelt allerdings nicht sonderlich genau. In diesem Jahr erhielt sie laut Presserat sieben Rügen, von denen sie keine einzige abdruckte. 2019 waren es zwölf, nur fünf davon veröffentlichte sie.
Die RTL-Berichterstattung hat inzwischen, unter anderem, Reichelts Vorgängerin an der Bild-Spitze zu verantworten: Tanit Koch. Sie ist Chefredakteurin der Zentralredaktion der Mediengruppe RTL. Bei Bild galt sie – im Unterschied zu Reichelt – als gemäßigt.
Das könnte Sie auch interessieren:
- Interview Journalistik-Professor: „Bild-Boykott wäre sinnvoll“
- Haftbefehl erlassen: Mutter soll fünf Kinder erstickt haben
Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.