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Massaker auf Utøya: Kampf um das verlorene Paradies

Massaker auf Utøya

Kampf um das verlorene Paradies

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    Das ist die kleine Insel Utoya, auf der 69 junge Menschen einem entsetzlichen Massaker zum Opfer vielen.
    Das ist die kleine Insel Utoya, auf der 69 junge Menschen einem entsetzlichen Massaker zum Opfer vielen. Foto: André Anwar

    Jorid weiß, dass sie gleich sterben wird. Der Mann in Polizeiuniform hat faustgroße Löcher in ihre Freunde geschossen. Wie ein Roboter. Er will rein. Schießt in die verriegelte Tür zum Schlafsaal. Schießt die Tür in Stücke. Drinnen liegt Jorid mit ihren gerade 20 Jahren zusammengezogen wie ein Embryo unter dem Bett. Mit ihr noch ein anderes Mädchen. Sie halten sich die Hände, dass es fast schmerzt. In Horrorfilmen ist das Versteck unter dem Bett immer das schlechteste, vor allem in einem Schlafsaal. Aber der Mann guckt nicht unter Jorids Bett. Das ständige Knallen wird etwas leiser, dann wieder lauter, wie die kurzen Schreie draußen. Gleich ist es zu Ende, denkt die Politologie-Studentin.

    Jorids Vater sitzt auf einem Bett in einem Hotel in Italien. Er wartet. Sitzt die schlimmsten vier Stunden seines Lebens, bis Jorid im Chaos der Evakuierung von einem Festlandhotel über Facebook schreibt, „ich lebe“.

    Nur vier Wochen später ist Jorid Nordmelan wieder auf der Insel Utøya, auf der 69 Freunde ihrer sozialdemokratischen Nachwuchsorganisation starben. „Ich habe es einfach nicht geschafft, auf alle Beerdigungen zu gehen. Deshalb bin ich eigentlich vor allem gekommen. Um Tschüss zu sagen“, sagt sie. Die Fähre, mit der auch Anders Behring Breivik auf die Insel übergesetzt war, hat sie gerade zurück ans Festland gebracht. Sie wirkt erleichtert.

    Den Vater nimmt der Besuch mehr mit als die Tochter

    Der Einladungsbrief hatte lange auf dem Tisch zu Hause gelegen. „Ich wollte nicht wieder zurück. Ich war mir so sicher, dort zu sterben. Aber vor einer Woche habe ich mich umentschieden“, sagt sie auf einer Klippe am See. Hinter ihr liegt Utøya, die grüne Insel im blauen Wasser. Jorid trägt ein Top mit Gepardenmuster und fast zu weitem Ausschnitt, dazu ein kurzes gelbes Jeanshöschen. So gehen skandinavische Mädchen in die Disco. In der scharfen nordischen Mittagssonne blinkt ihre lange modische Halskette mit Friedenszeichen. Sie ist auffallend ruhig. Ihren Vater Narve registriert sie gar nicht richtig.

    Er steht neben ihr, trampelt unruhig mit den Füßen. Seine Augen flackern hin und her. Er will gelassen wirken, aber der Besuch auf der Insel hat ihm mehr zugesetzt als der Tochter. Die blickt fast entspannt hinüber zur Insel. So, als ob sie das Monster in ihren Erinnerungen durch den Besuch erlegt hätte. „Wir haben ihr so gut es geht Mut gemacht. Sie hat lange gezögert, der Einladung zuzusagen. Hatte Angst. Ein Psychologe redete mit ihr und sagte, dass es helfen könne, mit überlebenden Freunden zurückzukehren an den Mordplatz, auch wenn das im ersten Moment seltsam klingen mag“, sagt der Vater.

    Jorid ist froh, dass sie dort war. „Wir haben gemeinsam geweint, als wir alles noch mal gesehen haben, auch die Stellen, an denen gute Freunde erschossen wurden“, sagt sie. Beim nächsten Sommercamp in einem Jahr will sie mithelfen, die Insel wieder zum Leben zu erwecken. „Das war unser Paradies und das holen wir uns zurück. Mit viel Liebe und ohne Hass“, sagt sie, fast so, wie es im Parteiprogramm stehen könnte. Die junge Sozialdemokratin hat sich auch gleich wieder in Arbeit gestürzt, als Wahlkampfsekretärin für ihre Partei – zwei Wochen nach ihrem Beinahetod. Warum? „Weil ich das den Toten schuldig bin“, sagt sie pflichtbewusst.

    Viele Stimmen für die Sozialdemokraten prognostiziert

    Im September finden Regionalwahlen statt. Vor dem Massaker waren die Sozialdemokraten in Umfragen weit abgeschlagen, jetzt wird ihnen das beste Wahlergebnis seit Jahrzehnten vorausgesagt. Viele Sympathiestimmen sind dabei. Die Arbeiterpartei, die nach Auffassung des Täters Breivik und seiner rechtspopulistischen Ex-Partei FRP zu viele Moslems importiere, war das Hauptziel des Anschlages. Mit einem Bombenanschlag auf Regierungsgebäude in Oslo als Ablenkungsmanöver hatte er begonnen.

    "Liebe und Zusammenhalt"

    Vier Wochen danach schweben die Norweger noch immer in „unwirklichem“ Zustand, wie viele überraschend einstimmig sagen. Auch der Trauermarathon mit unzähligen Veranstaltungen, Tag für Tag, Woche für Woche, hat dieser schmerzvollen Ratlosigkeit bislang nicht abhelfen können. Es gab Staatsakte und Trauerveranstaltungen, und fast jede einzelne der 69 Beerdigungen wurde über die Medien im ganzen Land zelebriert. Aber die Reden gleichen sich zunehmend. „Liebe und Zusammenhalt“, „kein Fingerzeigen“, „kein Hass“ sind oft benutzte Vokabeln. Den Namen des Täters auszusprechen, meiden Überlebende und Trauernde allerdings wie den des Teufels.

    Allen Trauernden, Überlebenden, Polizisten und Helfern stand permanent je ein Psychologe zur Seite. Das Angebot an Zusammenkünften war riesig. „Wir hatten in Norwegen viele Opfer nach dem Tsunami 2004 und haben dabei viel gelernt. Die Leute damals sind instinktiv zusammengerückt und sind teils nach Südostasien zurückgekehrt. Vielen hilft das sehr in der Bewältigung des Erlebten“, sagt Grete Dyb, Jugend- und Kinderpsychiaterin am Osloer Krisenzentrum bei Utøya. Auch sie begleitet Hilfesuchende. „Wir ermutigen unsere Patienten, sich zu aktivieren, Sport zu treiben, nicht nur herumsitzen und zu grübeln“, sagt sie.

    Ob das nicht schon zu viel des Guten ist? Schließlich hatte doch selbst König Harald drei Tage nach dem Anschlag im Osloer Dom gesagt, „einige brauchen jetzt Gesellschaft, andere aber müssen nun in Ruhe gelassen werden, um trauern zu können“. Die Psychiaterin nickt vorsichtig. „Wir geben allen den nötigen individuellen Raum, um selbst zu entscheiden. Viele sind auch nicht nach Utøya gekommen. Denen haben wir versichert, in einigen Monaten noch mal eine Reise auf die Insel zu organisieren und danach noch mal, beteuert die Psychiaterin.

    Nicht weit entfernt, ganz oben auf dem Berg des dünn besiedelten Festlandes vor Utøya, wohnt Familie Grorud in einer riesigen, wunderschönen Villa. Sie hatte die Polizei als Erste über die Schüsse informiert, damals, am 22. Juli. Der 55-jährige Kejll Grorud blickt hinunter auf die Fähre, in der Überlebende auf die Insel gebracht werden. „Es ist fast etwas schaurig zu sehen, wie die jungen Leute auf der gleichen Fähre sitzen, auf der Breivik rüber ist. Ich träume noch immer von den Schreien, den ununterbrochenen Schüssen, den vielen Menschen im Wasser und unserer Angst“, sagt Kejll und zeigt hinunter auf die Insel.

    Immer wieder zeichnet er auf einen Block Papier auf, wo was geschehen ist. Die Meterabstände zum Festland zeichnet er ein, das alte Rettungsboot, das untergegangen ist, weil Breivik darauf mit seinen präparierten Dumdumpatronen, die nach dem Einschlag noch einmal explodieren, schoss. Er erzählt von einem Mädchen, das noch lebte, aber ein riesiges Loch im Oberschenkel hatte, als es von Sanitätern weggetragen wurde. Er erzählt von den vielen Leuten, die im Wasser waren und aus Angst, dass sich auf den Booten engagierter Zivilisten auch Terroristen befinden, von den Booten wegzuschwimmen versuchten. Grorud zeichnet und zeichnet, als ob er das Geschehene mit mehr Rationalität verschwinden lassen könnte.

    Der traumhafte Blick auf den Fjord hat Kejll fast ein Leben lang Ruhe gegeben. Der Mann, der so viel erreicht hat, will es nicht sagen. Er will sich sein Heim und seine Identität nicht nehmen lassen. Wie Norwegen. Dann redet er doch.

    Die Nachbarn mussten ohnmächtig zusehen

    Jetzt habe er von der Aussicht seit Wochen Albträume. Kjell wollte hinunterrennen und mit seinem Boot Menschen auffischen, aber die inzwischen scharf kritisierte Polizei ließ ihn und den Nachbarn nicht. „Die haben völlig versagt, sind überhaupt nicht mit dem Ganzen klargekommen“, sagt er. Er hätte gern geholfen, sein Leben aufs Spiel gesetzt. Vielleicht auch, weil es sich dann jetzt leichter angefühlt hätte. „Die Polizei ließ mich nicht. Den Nachbarn ging es genauso.“ Kejll ergänzt seine Zeichnungen auf dem Gartentisch um weitere Distanzzahlen. Er kennt keines der Opfer. Ebenso wenig die beiden Töchter, Maria (23) und Malene (20), die gerade eine Krankenschwesterausbildung angefangen haben und Ehefrau Liv. Aber sie sind sichtlich mitgenommen. „Wir werden hier nicht wegziehen, wir lassen uns das hier nicht nehmen“, sagt Liv.

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