Startseite
Icon Pfeil nach unten
Panorama
Icon Pfeil nach unten

Magersucht: Christian Frommert: Der Feind in mir

Magersucht

Christian Frommert: Der Feind in mir

    • |
    Christian Frommerts Magersucht ist noch nicht überwunden. Der frühere Kommunikationsmanager der Telekom hat darüber ein Buch geschrieben.
    Christian Frommerts Magersucht ist noch nicht überwunden. Der frühere Kommunikationsmanager der Telekom hat darüber ein Buch geschrieben. Foto: Thomas Balzer

    Weil der Mensch ein Beziehungswesen ist, setzt er sich mit allem und jedem ins Verhältnis. Also spricht er auch mit dem Feindseligen und Zerstörerischen. Dem Entführer, der Depression, dem Tumor. Er gibt ihnen Namen, beschwört, verflucht und umgarnt sie. Christian Frommert hat seinen geliebten Feind Anna genannt. Anna, Kosename für Anorexia. Zu Deutsch: Magersucht.

    "Wer hält mich nachts wach und irgendwie doch am Leben?

    Wer saugt mir die Kraft aus den Knochen und dem wenigen Fleisch, das noch an mir ist . . .

    Wer ist mir verhasst und doch lieb und teuer, wen achte und verachte ich gleichermaßen . . . Anna, meine gehasste Geliebte."

    In Deutschland sind 100.000 Menschen an Magersucht erkrankt. 90 Prozent Frauen, der Rest Männer. Deren Anteil aber steigt stetig.

    Christian Frommert hat ein Buch über sein Leben mit Anna geschrieben. Damit ist er in jene Öffentlichkeit zurückgekehrt, in der er vor zehn Jahren schon einmal stand. 2006, kurz vor dem Start der Tour de France, war sein Gesicht täglich in den Medien zu sehen. Ein schmales Gesicht. Neben ihm eines der bekanntesten der Nation – das von Jan Ullrich. Frommert war damals Kommunikations-Manager der Telekom AG und als solcher für das T-Mobile-Team zuständig.

    Ein Erfolgsmensch auf der Überholspur

    2006 versanken Ullrich und das Team im Dopingsumpf. Frommert hatte einen der größten Heldenstürze im deutschen Sport zu moderieren und dafür zu sorgen, dass wenig von dem Schmutz an seinem Arbeitgeber hängen blieb. Der heute 46-Jährige war Tag und Nacht auf Sendung. Das konnte er. Rund um die Uhr arbeiten. Brücken und Netzwerke bauen; retten, was schon verloren schien. Ein ausgebildeter Journalist, der es bei der Frankfurter Rundschau in Kürze vom Volontär zum Chef vom Dienst gebracht hatte. Ein Erfolgsmensch auf der Überholspur. Wann er sie verlassen hat, lässt sich nicht genau sagen. Es war nicht die eine Abzweigung, die er verpasst hat, die eine Kurve, in die er zu schnell gerast ist. Vielmehr scheint es so, als sei Anna schon von Anfang an neben ihm gesessen.

    "Sie ist gekommen, um zu bleiben. Hat sich häuslich niedergelassen und eingerichtet. Sie hat kein Gepäck, sie lebt nicht einmal aus dem Koffer, sondern einzig und allein aus mir."

    Wer über den späteren Frommert liest, der sich von einigen Teelöffelchen Magerquark ernährt und 2009, mit 39 Kilo, mehr tot als lebendig, in einer Klinik landete, kann sich nicht vorstellen, dass dieser 184 cm große Mann einmal 140 Kilo gewogen hat.

    Mutter kochte reichlich, und dem jungen Christian schmeckte es. Wenn er ordentlich zulangte, war Mutter zufrieden. Nicht dass sie das gesagt hätte – in der Frommert’schen Bürgerfamilie blieben Emotionen unter dem Tisch – aber er spürte das. Und die Mutter wollte, dass aus dem Sohn etwas wird. Ein Jurist, noch besser einer mit Promotion. Entsprechend groß war die Enttäuschung, als Christian bei der Zeitung landete.

    Als Junge war Frommert der gutmütige Dicke gewesen, der alles ertrug – nur um dazuzugehören. Einer, der den Mädels stundenlang zuhörte. Geküsst haben sie dann einen anderen. Für seine erste Freundin war er ein zuverlässiger Fahrer. Er hat sie zu Partys chauffiert und wieder abgeholt. Mitgenommen hat sie ihn nicht. Er war ihr peinlich.

    Innerhalb eines Jahres namm Frommert 50 Kilo ab

    Frommert begann unter seiner Körperfülle zu leiden – und legte den Hebel um. Innerhalb eines Jahres nahm er 50 Kilo ab. Der Geist war aus der Flasche und begann sein zerstörerisches Werk. Frommert schmolz dahin. Jedes Gramm weniger löste Hochgefühle aus. Er war süchtig. Einer, der sich an die Grenzen des Lebens hungerte. Anorexia ist die Suchtkrankheit mit der höchsten Sterberate. Für 15 Prozent der Erkrankten endet sie tödlich.

    „Ich höre meinen Körper nach Essen rufen, ich höre ihn brüllen“, schreibt er. Die Arbeit, die er sich bergeweise auflädt, übertönt das Brüllen. Sie lenkt ihn ab, nimmt den Schmerz. Er hat weder Frau noch Kinder. Er steht um 4.30 Uhr auf, fährt zwei, drei Stunden Rad, isst zwei angekokelte Toastscheiben, aus denen auch die letzten Kalorien herausgebrannt sind, und stürzt sich wieder in die Arbeit. Frommert: „Ich wollte, dass mein Körper gerade so genug hat“, um zu überleben.

    Er weiß, dass er sich in eine Sackgasse bewegt, aber er kann es nicht ändern. Es gibt Menschen, die auf ihn einreden, wie Oliver Bierhoff, Manager der Fußball-Nationalmannschaft, mit dem er befreundet ist. Aber sie erreichen ihn nicht. Eine Therapie bleibt genauso ergebnislos wie ein Klinikaufenthalt, den er nach knapp drei Monaten vorzeitig abbricht.

    „Ich war stolz auf die Entscheidung, die nicht ich getroffen hatte. Sondern sie: Anna. Alles würde gut werden, säuselte sie mir ins Ohr, wenn wir nur erst wieder unter uns wären.“

    Nichts wurde gut. Frommert litt schon lange unter den Begleiterscheinungen der Magersucht. Um die Beine zu heben, muss er mit den Armen nachhelfen. Seine Haut ist brüchig wie Pergament. Sie reißt überall. Der Körper ist von Wunden übersät. Die Haare fallen büschelweise aus. Einmal unvorsichtig über den Stuhl gelehnt, schon bricht eine Rippe. Er ist ein Wrack, das noch immer Kalorien zählt. Es ist das Leben selbst, das ihn an den Anfang zurückbefördert. Sein Vater stirbt, der Verehrte, aber Kühle.

    „Wer noch blieb, war Anna. Das verdammte Miststück.“

    Und die Mutter, der er sich nun wieder nähert. „Mutter hat die Allmacht, ich bin der Hund an ihrer Leine“, sagt der Mann, der einst Manager eines Weltkonzerns war. 80 Jahre alt ist sie, als er mit ihr eine Australien-Reise antritt. Es wird eine Reise zum Kern der Mutter-Sohn-Beziehung. Sie ist beschwerlich, verletzend, furchtbar und tränenreich. Aber sie ist ein Anfang. Gestützt wird Frommert inzwischen von einer Therapeutin, die ihn bis heute begleitet.

    Noch immer ist sein Essverhalten schwer gestört

    Aber der 46-Jährige, der im hessischen Bensheim lebt, ist noch immer weit weg von einem gesunden, alltäglichen Leben. Er steht nach wie vor um halb fünf auf. Sein Morgenprogramm: Eine Dreiviertelstunde Gymnastik, eineinhalb bis zweieinhalb Stunden Fahrrad-Ergometer, eine Stunde Laufen. Erst dann widmet er sich seinem Job als selbst-ständiger Kommunikationsberater. Sein Essverhalten ist weiter schwer gestört.

    Trotzdem hat er zugenommen. Wie viel, weiß er nicht. Er meidet Waagen. Schöner, als er es selbst sagt, lässt sich sein Zustand nicht beschreiben: „Ich befürchte voller Hoffnung, dass ich mich im oberen Drittel der 40er bewege.“

    Und Anna?

    „Mittlerweile ist unsere Liebe nicht mehr so innig. Anna ist immer noch da. Aber meine Verachtung für sie wächst.“

    Das Buch "Dann iss halt was!" ist im Mosaik-Verlag erschienen. Es umfasst 320 Seiten und kostet 19,99 Euro.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden