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Loveparade in Duisburg: "Ich vermisse sie sehr" - Svenja starb mit 22 bei der Loveparade

Loveparade in Duisburg

"Ich vermisse sie sehr" - Svenja starb mit 22 bei der Loveparade

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    Ein Foto mit Trauerflor der verstorbenen Tochter Svenja steht im Haus von Vater Manfred Reißaus in Bad Salzuflen (Nordrhein-Westfalen).
    Ein Foto mit Trauerflor der verstorbenen Tochter Svenja steht im Haus von Vater Manfred Reißaus in Bad Salzuflen (Nordrhein-Westfalen). Foto: Friso Gentsch, dpa

    Manchmal schreibt Manfred Reißaus seiner Tochter Svenja noch Briefe. Schreibt, wie sehr er sie vermisst. Und dass er wütend ist, "dass sie mich einfach so verlassen hat". Am 24. Juli 2010 hat der Malermeister bei der Loveparade in Duisburg seine 22 Jahre alte Tochter verloren. Und sein früheres Leben. Beim bevorstehenden Loveparade-Prozess ist der 55-Jährige Nebenkläger.

    Als Svenja 14 Jahre alt ist, trennen sich ihre Eltern. Sie und ihr jüngerer Bruder wachsen bei dem Vater auf. "Mein ein und alles" nennt Reißaus die beiden. Nach dem Abitur will Svenja Gerichtsmedizinerin werden. Als sie realisiert, wie lang der Weg zur Pathologin ist, schwenkt sie auf Jura um. Sie studiert in Bochum, nicht weit weg von ihrer alten Heimat in Castrop-Rauxel.

    Am Unglückstag, einem Samstag, wollte sie eigentlich nicht zu der Technoparade gehen und noch für eine Klausur lernen, erzählt Reißaus. Einem Freund zuliebe tat sie es dann aber doch. "Als ich am Abend von dem Ganzen hörte, dachte ich, sie wird doch wohl nicht dahin gegangen sein." Reißaus ruft auf beiden Handys von Svenja an. Vergeblich.

    Die Tochter von Manfred Reißaus ist bei der Loveparade 2010 in Duisburg ums Leben gekommen.
    Die Tochter von Manfred Reißaus ist bei der Loveparade 2010 in Duisburg ums Leben gekommen. Foto: Friso Gentsch, dpa

    Nach einer schlaflosen Nacht am Sonntagmorgen dann endlich die vermeintlich erlösende Nachricht: Alle Toten seien identifiziert, die Angehörigen verständigt, sagt jemand am Telefon. Der besorgte Vater und seine Freundin fallen sich erleichtert in die Arme und fahren nach Duisburg, Krankenhäuser abklappern. Doch wieder nichts: "Nirgendwo gab's meine Tochter."

    Am späten Nachmittag fährt Reißaus entnervt zum Polizeipräsidium. Dort fragt man ihn: Wie groß war sie? Wie sah sie aus? Welche Kleidung trug sie? Noch am selben Tag muss er sie identifizieren. Reißaus' Welt bricht zusammen. Im Gedränge der Loveparade verlieren am Ende 21 junge Menschen ihr Leben, Hunderte werden verletzt. Nicht wenige leiden bis heute unter den Folgen.

    Loveparade-Katastrophe 2010: Die erste Zeit war hart

    Mehr als sieben Jahre sind inzwischen vergangen. Die erste Zeit war hart: "Am Anfang haben wir uns sehr allein gelassen gefühlt. Viele hatten sich abgewendet, weil sie nicht wussten, wie sie mit einem umgehen sollen."

    Reißaus lebt jetzt im westfälischen Bad Salzuflen unweit von Bielefeld. Auf einem Regalbrett an der Wand neben dem Wohnzimmertisch stehen zwei gerahmte Porträtfotos von Svenja. Auf dem einen trägt sie die Bluse, die sie auch am Unglückstag trug. Ihr Vater hat sie später völlig zerrissen von der Polizei zurückbekommen. Aus einer Vase ragen drei weiße Kunststoff-Rosen. "Das war die Tischdeko beim Leichenschmaus." Geblieben ist auch Svenjas Katze Lissy, 17 Jahre alt. Sie kommt, wenn man sie ruft.

    Auf dem Regal hat Reißaus eine schöne Kerze aufgestellt und angezündet. Er hatte sie am 7. Jahrestag beim traditionellen Angehörigen-Gottesdienst in Duisburg bekommen. Auch ein kleines Fotoalbum steht dort. Behutsam nimmt er es in seine großen Handwerker-Hände und gibt es den Reportern. Fotos vom Sarg, von den Kränzen bei der Beerdigung und vom Grab sind darin. Und - ganz hinten - von der aufgebahrten Svenja.

    Loveparade: Vom fröhlichen Straßenspektakel zur Tragödie

    GRÜNDUNG: Als kleines Straßenfest wird 1989 die erste Loveparade in Berlin veranstaltet. DJ Dr. Motte (Matthias Roeingh) gründet das Raver-Fest, das im ersten Jahr 150 Technofans unter dem Motto "Friede, Freude, Eierkuchen" auf dem Kurfürstendamm tanzen lässt.

    BOOM: Fünf Jahre nach dem Start feiern bereits 120 000 Raver um 40 Musik-Trucks herum. 1999 zählen die Veranstalter 1,5 Millionen Besucher.

    KRISE: Mangels Sponsoren fällt die Loveparade 2004 und 2005 aus - bis der Fitnessstudio-Unternehmer Rainer Schaller mit dem Unternehmen Lopavent einspringt. In Berlin findet die Parade bald mit dem Senat keinen Konsens mehr und wandert ins Ruhrgebiet ab, wo sie in Essen (2007) und Dortmund (2008) wiederum viele Besucher anlockt.

    TRAGÖDIE: Bochum verzichtet ein Jahr später aus Platz- und Sicherheitsgründen. Nach der Katastrophe in Duisburg im Jahr 2010 kündigt Schaller an, es werde keine Loveparade mehr geben

    Reißaus hat nach der Katastrophe mühsam einen Weg zum Weiterleben gefunden. Er hat sich stark gemacht für die Einrichtung einer Gedenkstätte am Unglücksort, hat sich durch Aktenordner und Gesetzestexte gewühlt. Seit fast drei Jahren engagiert er sich für die Loveparade-Stiftung. Er ist Gründungsmitglied und sitzt im Beirat. Mit anderen Eltern steht er in engem Kontakt. "Wir treffen uns sieben, acht Mal im Jahr und telefonieren oft miteinander. Unser Motto lautet: Together we are strong."

    Geholfen hat ihm auch seine Partnerin: "Bei einem Kindstod gehen 80 Prozent der Beziehungen innerhalb von fünf Jahren auseinander. Ich habe 2014 geheiratet." Eine Stieftochter hat inzwischen einen Enkelsohn. Seinen Beruf kann Reißaus seit dem Unglück trotzdem nicht mehr ausüben. Ein Jahr nach dem Unglück gab der Selbstständige seine Firma auf.

    Bis heute kämpft er mit dem Verlust seiner Tochter: Immer noch hat er nachts oft Albträume und Schweißausbrüche. Seit drei Jahren nimmt er regelmäßig psychologische Hilfe in Anspruch. Aber er sieht auch Fortschritte bei sich: "Nach sieben Jahren habe ich in diesem Jahr zum ersten Mal wieder Videokassetten mit Aufnahmen von Svenja angeguckt." Auch sonst gebe es schon mal "Spässken", etwa beim Spieleabend. "Hi, biste dabei?", sage er dann in Richtung des Fotos seiner Tochter.

    Prozess um Loveparade in Duisburg: Wie konnte es zu dem Unglück kommen?

    Von dem Prozess erhofft Reißaus sich Aufklärung darüber, wie es zu dem Unglück kommen konnte. "Wir möchten als Eltern nicht, dass diese Sache nochmal passiert. Ein Urteil ist für mich uninteressant." Er ist skeptisch, dass es vor der absoluten Verjährung der vorgeworfenen Taten im Juli 2020 überhaupt zu einem Urteil kommt. Ärgerlich ist er darüber, dass es nach seinen Angaben vom Land Nordrhein-Westfalen keine finanzielle Unterstützung für die Nebenkläger etwa für Fahrtkosten gibt.

    Bei den ersten sechs Verhandlungsterminen bis zum Jahreswechsel will Reißaus jeden Tag dabei sein. "Dann weiß ich nicht. Vielleicht gehe ich auch nur den ersten Tag hin." Als Nebenkläger nimmt er die Hilfe von drei Anwälten in Anspruch. Und er hat sich etwas vorgenommen: "Das schönste wäre, wenn ich mal aufstehen und den Angeklagten der Reihe nach in die Augen sehen könnte." Helge Toben, dpa

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