Sabina Nessa verließ ihr Haus im Süden Londons in den Abendstunden. Sie war an jenem Freitagabend auf dem Weg zu einem ersten Date. Ihr kurzer Weg von ihrer Wohnung im Süden Londons zum Pub führte die 28-Jährige durch den beliebten „Cator Park“. Doch sie sollte nie in der „Depot Bar“ im Stadtteil Greenwich ankommen. Am Samstag vergangener Woche wurde ihr Leichnam gefunden. Ihr Weg hätte „etwas mehr als fünf Minuten dauern sollen, aber sie erreichte ihr Ziel nie“, sagte Chefermittler Joe Garrity. Gestern nahm die Polizei einen 38-Jährigen Tatverdächtigen fest.
Der Tod der 28-Jährigen weckt Erinnerungen
Zunächst nahm die Öffentlichkeit kaum Notiz von dem Verbrechen. Der Londoner Zeitung Metro war der Tod der Lehrerin nur eine kurze Meldung wert, wenige Zeilen lang. Doch in den sozialen Medien formierte sich Protest. Der Tod der 28-Jährigen ruft bei vielen Londonerinnen Erinnerungen wach. Vor einem halben Jahr wurde die 33-jährige Sarah Everard von einem Polizisten ermordet. In den sozialen Medien erzählten damals Tausende Frauen von ihren eigenen Erfahrungen. Hunderte ignorierten außerdem den verhängten Lockdown und versammelten sich in einem Park im Süden der Stadt zu öffentlichen Mahnwachen. Sie wollten ihre Stimme erheben – gegen alltägliche Belästigungen und Gewalt. Was dann passierte, führte jedoch erst recht zu einem Aufschrei. Teilnehmerinnen wurden von der Polizei auf den Boden geworfen, weggezerrt und gewaltsam abgeführt. Das Vertrauen in die Staatsgewalt wurde schwer erschüttert.
Gewalt gegen Frauen: Kaum Maßnahmen dagegen ergriffen
Viele Britinnen fragen nun in den sozialen Medien, welche Maßnahmen ergriffen wurden, um die Situation für Frauen zu verbessern. „Es hat sich nichts geändert. Männliche Gewalt ist immer noch eine Epidemie“, heißt es. Auch die britischen Medien kritisieren die aktuelle Lage: Die Regierung habe nach der landesweiten Diskussion um Sarah Everards Tod eigentlich nichts getan, außer eine bessere Beleuchtung auf den Straßen anzuordnen, kommentierte eine Journalistin.
Der Fall Sabina Nessa rührt jedoch noch an einem anderen Problem in der britischen Gesellschaft. In den sozialen Medien machen derzeit viele Frauen darauf aufmerksam, dass der Mord an der Lehrerin vor allem deshalb keinen interessiert habe, weil sie Muslimin war. „Das Verbrechen fand am Freitag statt. Ich erfahre davon erst am Montag. Und das, obwohl es in meiner Nachbarschaft passiert ist“, sagte eine Frau. Als Grund vermutet sie, Diskriminierung gegen „woman of colour". Dies ist ein Ausdruck, um weibliche Nicht-Weiße zu beschreiben. Tatsächlich wirft der Mord an der 28-jährigen ein Schlaglicht auf die alltägliche Gefahr für diese Frauen. Außerdem würde seltener über ihren Tod berichtet, so der Eindruck vieler.
Diskriminierung gegen „woman of colour"
Mittlerweile ist das Thema in den britischen Medien angekommen. Gestern war das Bild Nessas auf allen großen Tageszeitungen zu sehen. Das Foto rührt viele Menschen. Denn es zeigt sie anlässlich ihres Abschlusses mit einem Bachelor-Hut, in der Hand hält sie ihr Zeugnis. Damit wird ein Moment in ihrem Leben ins Bild gesetzt, mit dem sich viele Frauen in Großbritannien identifizieren können. Innenministerin Priti Patel twittert: „Ich bin in Gedanken bei der Familie des Opfers und lasse mich ständig über die Ermittlungen auf dem Laufenden halten.“ Londons Bürgermeister Sadiq Khan sprach von einer „Epidemie“. Innerhalb eines Jahres seien landesweit 180 Frauen von Männern getötet worden, sagte er.
Tatsächlich wurde der mutmaßliche Mörder der Lehrerin bei seinem Verbrechen gefilmt. Aufnahmen einer Überwachungskamera zeigen, wie er sie kurz nach Verlassen ihres Hauses niederschlägt und davonträgt. Die Polizei hat mittlerweile einen Tatverdächtigen festgenommen. Es handelt sich dabei um einen 38-jährigen Mann aus Lewisham, einem Stadtteil südöstlich von London. Der Polizeichef von Greenwhich, Trevor Lawry, betonte indes, dass die Straßen sicher seien. Für viele Frauen in London ist dies ein schwacher Trost. Gestern wurden für die Abendstunden erneut Mahnwachen angekündigt. Diesmal in Gedenken an die 28-jährige Lehrerin Sabina Nessa.