Einmal war es ein halbes haselnussgefülltes Kaubonbon, ein anderes Mal der Biss in einen Lebkuchen. Danach ging es Benjamin plötzlich richtig schlecht. "Er ist kreidebleich geworden, war total schlapp und hatte rote Flecken am Körper", erzählt seine Mutter. Als es das dritte Mal passierte, ging sie mit dem Kleinkind zum Kinderarzt. Eine Blutuntersuchung brachte Gewissheit: Benjamin hat eine Haselnuss-Allergie.
Wie dem Dreijährigen aus Nürnberg geht es vielen Menschen. Denn Allergien und Unverträglichkeiten gegen Lebensmittel werden häufiger. "Das hat vielfältige Gründe," erklärt Prof. Dr. Claudia Traidl-Hoffmann vom Forschungsverbund UNIKA-T. Sie gehört zu den führenden Allergologen in Europa. "Dabei können unser moderner Lebensstil, die Vielfalt unterschiedlicher Mikroben, der Verlust der Biodiversität - also der Artenvielfalt - sowie die globale Erwärmung eine große Rolle spielen. Dadurch sind die Pollen zum Beispiel fast das ganze Jahr unterwegs." Dazu hat das UNIKA-T vor einiger Zeit schon einmal eine Querschnittsbefragung der Bevölkerung in Augsburg durchgeführt. Dabei kam heraus, dass nur ungefähr 10 Prozent der 60 bis 70-Jährigen allergische Reaktionen zeigten. Wohingegen der Wert bei den 20 bis 30-Jährigen bis zu 40 Prozent erreichte. Es zeichnet sich ein exponentieller Anstieg der Betroffenen in der Gesellschaft ab.
Laut Traidl-Hoffmann muss dabei zwischen einer Allergie und einer Unverträglichkeit unterschieden werden: "Eine Allergie ist eine spezifische Reaktion, die klar definiert ist. Dadurch kann ein genauer Test, zum Beispiel ein Bluttest, gemacht werden. Eine Unverträglichkeit hingegen ist eine unspezifische Intoleranz. Bis auf bekannte Formen wie Laktose- oder Fructoseintoleranz ist das noch ein ganz nebliges Feld." Um diese Wissenslücken zu schließen, sucht das Bundesministerium für Bildung und Forschung auch gerade qualifizierte Experten als Teil eines Forschungsprojekts.
Es fehlen die medizinischen Möglichkeiten um alle Nahrungsmittelallergien nachzuweisen
Nicht immer sind die Beschwerden dabei so eindeutig wie bei Benjamin. "Die Symptome können von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein. Und genau das versuchen wir gerade zu verstehen", erklärt Claudia Traidl-Hoffmann. Dennoch steht die Forschung nicht still. Das CK-Care (Christine Kühne – Center for Allergy Research and Education) ist ein Programm der Kühne Stiftung, dass bereits seit längerer Zeit ein großes Register zu Allergien und Symptomen führt. Die Ernährungsmedizinerin Yurdagül Zopf behandelt am Erlanger Universitätsklinikum regelmäßig Patientinnen und Patienten aus ganz Deutschland und dem Ausland, bei denen die herkömmlichen Allergietests unauffällig sind. Das liege zum einen daran, dass die Tests nicht zu 100 Prozent zuverlässig seien. Zum anderen gebe es Nahrungsmittel-Allergien, die nicht immer durch serologische Tests - also den Nachweis von Antikörpern im Blut - oder auf der Haut feststellbar seien. "Die diagnostischen Möglichkeiten sind häufig noch nicht ausreichend, um alle Nahrungsmittelallergien nachzuweisen."
Ein Beispiel ist der Darm. "Der Darm ist ein riesiges Immunorgan", sagt Zopf. "Da müssen wir noch verstehen, welche Bedeutung er bei der Entstehung von Allergien und den allergischen Reaktionen hat." Dass er eine wichtige Rolle spielt, sei erst in den letzten Jahren in den Fokus gerückt. Das Universitätsklinikum nutzt ein noch wenig verbreitetes Verfahren, um dies genauer zu untersuchen. Bei der speziellen Darmspiegelung können die Mediziner die Essenz von Nüssen, Soja oder anderen Allergenen auf die Darmschleimhaut sprühen und beobachten, wie diese darauf reagiert.
Wie entstehen Lebensmittelunverträglichkeiten und Allergien - liegt es an falscher Ernährung?
Doch wie entstehen Allergien auf Lebensmittel wie Nüsse, Getreide, Kuhmilch, Hühnereier oder Fisch überhaupt? Vollständig erforscht ist das noch nicht, obwohl es schon in der Antike vereinzelte Berichte über allergische Reaktionen gab. "Was bestimmt eine Rolle spielt, ist die Art und Weise, wie wir uns ernähren", sagt die Dresdner Allergologin Nemat. So stünden stark industriell verarbeitete Lebensmittel im Verdacht, Allergien auszulösen. "Das ist aber sicherlich nicht der einzige Faktor. Es ist ein Zusammenspiel von Ursachen."
Medikamente können nach Angaben von Zopf die Entstehung von allergischen Reaktionen begünstigen. Säurehemmende Magenmedikamente können zum Beispiel dazu führen, dass Proteine nicht vollständig verdaut werden und größere Eiweißfragmente in den Darm gelangen. "Das kann bei Überempfindlichkeiten oder genetischer Disposition zu Unverträglichkeitsreaktionen führen", sagt sie.
Fest steht: "Theoretisch kann man gegen alles eine Allergie entwickeln.", sagtTraidl-Hoffmann. "Zudem können sich Allergien auch überschneiden. Wenn ich zum Beispiel eine Birkenallergie habe und einen Apfel esse, können trotzdem allergische Reaktionen autreten." Das nennt man laut der Expertin dann eine Kreuzallergie. Bei einer normalen Allergie identifiziert das Immunsystem die Proteine von beispielsweise Lebensmitteln als Feind und reagiert heftig auf diese. Dafür reichen auch schon kleinste Mengen. Dass manche Eltern ihren Babys ganz bewusst keine Lebensmittel wie Nüsse, Ei oder Milch geben, die Allergene enthalten, halten Experten für keine gute Idee, denn das hat leider den gegenteiligen Effekt. Das Immunsystem muss gerade im Babyalter Toleranz erlernen.
Bei vielen Kindern verschwindet die Lebensmittel-Allergie mit der Zeit. "Das verwächst sich, weil das Immunsystem ausgereift ist und gelernt hat, damit umzugehen", sagt Zopf. Eine Kuhmilch-Allergie geht nach Angaben der Experten bei allen Kindern zurück. Bei Hühnereiweiß reagiere die überwiegende Mehrheit nicht mehr allergisch, bei Erdnüssen sei es immerhin jedes fünfte Kind. Erwachsene haben dagegen schlechte Karten: Bei ihnen ist es eher unwahrscheinlich, dass eine Lebensmittel-Allergie wieder weggeht.
Was Betroffene für Alternativen haben
Auch die Eltern von Benjamin hoffen, dass er Haselnüsse in Zukunft wieder verträgt. "Er macht es eigentlich ganz toll", sagt seine Mutter. "Er ist wahnsinnig vorsichtig. Wenn jemand ihm etwas zu Essen anbietet, fragt er mich immer erst, ob er das darf." Vor ein paar Monaten ist es im Kindergarten dann doch passiert: Benjamin hatte sich bei der Adventsfeier einen Zimtstern vom Plätzchenteller geangelt. Danach übergab er sich und bekam Ausschlag. Es ging ihm erst besser, nachdem er Cortison bekommen hatte.
Die Lebensmittel meiden, auf die man allergisch reagiert und im Notfall die Symptome mit Medikamenten behandeln - mehr können Betroffene zurzeit nicht tun. Eine Immuntherapie, also eine Hyposensibilisierung wie bei Heuschnupfen, gibt es für Lebensmittel-Allergien in Deutschland bisher nicht. In den USA ist nach Angaben von Nemat seit vergangenem Herbst eine orale Immuntherapie zugelassen, bei der Allergiker Erdnussprotein-Pulver schlucken. In den nächsten Monaten werde dort voraussichtlich auch ein Pflaster getestet, das kleinste Mengen Erdnussprotein an die Haut abgibt. Claudia Traidl-Hoffmann rät auf jeden Fall jedem, der einen Verdacht auf eine Allergie hat oder Symptome aufweist, einen Arzt aufzusuchen. (dpa/AZ)
Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.