Mit großer Vehemenz zwingt uns die Corona-Krise eine in ruhigen Zeiten meist wenig beachtete, nun aber auf einmal elementar wirkende Frage auf: Wie viel darf der Staat bestimmen – und wie viel Eigenverantwortung habe ich als Individuum? Auch wenn dies hier kein Grundlagenseminar für politische Philosophie ist: Hilfreich wirken vielleicht zwei Bonmots des großen Denkers Immanuel Kant. Er wird unter anderem gern mit dem Satz „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt“ zitiert. Worte, die vor dem Hintergrund der Virus-Schutzmaßnahmen sozialen Sprengstoff enthalten.
Die Politik muss die Risikopatienten schützen - nicht alle Menschen auf einmal
Inzwischen ist ja längst belegt, dass Covid-19 vor allem für sehr betagte Menschen oder für Menschen mit Risikoerkrankungen gefährlich ist. Für große Teile der Bevölkerung aber eben nicht. Viele Infizierte erleben entweder gar keine oder nur leichte Symptome eines grippalen Infekts.
Wenn man von Kant aus argumentiert, lassen sich zwei Perspektiven bilden: Die Freiheit der wenig Gefährdeten endet dort, wo die Freiheit der Risikogruppe beginnt. Aber eben auch: Die Freiheit der Risikogruppe endet dort, wo die Freiheit der weniger Gefährdeten beginnt. Welcher Perspektive ist hier zu folgen? Bislang hat sich die Politik dazu entschieden, die Risikogruppe zu schützen – auf Kosten der weniger Gefährdeten. In dieser Gruppe, der Mehrheit, rumort es zusehends. So langsam dämmert es der Politik, dass ihr Kurs dazu führt, dass die Gesellschaft zu zerbersten droht, gar Unruhen aufkommen könnten. Dies ist kein zu vernachlässigender Kollateralschaden der Viruskrise. Sondern eine ernsthafte Konsequenz. Darum muss die Politik die Risikopatienten schützen. Und nicht – sozusagen ungefragt – alle auf einmal.
Manche Corona-Sicherheitsregeln lassen einen den Kopf schütteln
Mit dem zweiten Bonmot Kants landen wir dann bei der Eigenverantwortung: „Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Viele Menschen beklagen inzwischen, dass das Regierungshandeln ineffizient wirkt, unfundiert, einseitig beraten, unverhältnismäßig. Dass dieses Gefühl nicht täuscht, beweisen beispielsweise Urteile von Gerichten, die überzogene Maßnahmen der Exekutive immer häufiger wieder einkassieren.
Ein anderes Beispiel zum Kopfschütteln: Den Schulen werden umfangreiche Sicherheitsregeln aufgezwungen, es gibt Unterricht mit Masken, unterbrochen von zeitlich genau getaktetem Stoßlüften, unbedingten Abständen voneinander. Und später gegen Mittag im Schulbus geht es dann zu wie zu Stoßzeiten in der U-Bahn von Tokio.
Der Staat, der den Anspruch hegt, seine Bürger zu schützen, wird diesem Anspruch an vielen Stellen nicht gerecht. Und jeder weiß: Ich brauche nicht nach dem Staat als Schutzmacht für meine Gesundheit zu rufen, schützen kann ich mich nur selbst. Die meisten Menschen haben längst ein gutes Gefühl dafür entwickelt, wann es brenzlig werden könnte. Oder wann man gar jemanden gefährdet. Dazu zählt, dass man sich gerade dann aus Rücksicht gefälligst von alleine an die Hygieneregeln hält.
Auch ein Impfstoff wird die Uhr nicht auf Vor-Corona zurückdrehen
Eine Politik, die nur noch als bevormundende Alarmsirene daherkommt, Freiheiten immer wieder einschränkt, die nicht zwischen der aufaddierten Zahl der Corona-Infektionen in Deutschland (knapp 400.000 seit März) und tatsächlichen schweren Krankheitsfällen (diese Woche rund 450 beatmete Covid-Patienten bundesweit) unterscheiden will, schüttet Öl ins Feuer. Das sollte sie lassen. Statt dessen fokussiert die besonders Gefährdeten schützen. Ansonsten müssen wir einfach lernen, mit Covid-19 zu leben. Denn auch ein Impfstoff wird die Uhr nicht auf Vor-Corona zurückdrehen.
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