Vor einem Jahr stellte der Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx die „MHG-Studie“ vor. Er sagte, er schäme sich. Spätestens zu diesem Zeitpunkt konnte kein Kirchenverantwortlicher, kein Gläubiger mehr kleinreden, was sich innerhalb der deutschen katholischen Kirche jahrzehntelang Abstoßendes zugetragen hatte: der vieltausendfache sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen; die vieltausendfach ausgeübte physische und psychische Gewalt.
Vor neun Jahren war die Welle der Enthüllungen in Gang gekommen, vor einem Jahr erfasste sie die deutschen Bischöfe, die die MHG-Studie bei unabhängigen Forschern in Auftrag gegeben hatten. Seitdem hat sich die Krise der Kirche in einem Maße verschärft, für das das Wort „dramatisch“ noch wie eine Untertreibung klingt. Man muss sich diese Vorgeschichte immer wieder vor Augen halten, um zu verstehen – dass es den umkämpften Gesprächsprozess „Synodaler Weg“ oder die Frauen-Initiative „Maria 2.0“ gibt. Und zwar jeweils als Antwort auf den Missbrauchsskandal.
Bischöfe haben endlich verstanden, dass es nicht nur um Symbole geht
Ein Jahr nach Vorstellung der MHG-Studie muss man feststellen: Sie hat aufseiten der Bischöfe spürbar für Schwung bei den Themen Aufarbeitung und Prävention gesorgt. Erst die Studie hat Maßnahmen befördert oder beschleunigt, die vor Jahren auf den Weg gebracht oder umgesetzt hätten werden können und müssen: die verstärkte direkte Begegnung von Bischöfen mit Opfern, die Schaffung einheitlicher Standards im Bereich Personalakten oder unabhängiger Anlaufstellen, eine permanente bistumsübergreifende Überprüfung aller Maßnahmen. Auch über die Einführung von kirchlichen Strafgerichtskammern über Bistumsgrenzen hinweg wird diskutiert. Dass es dazu mehr als neun Jahre bedurfte, ist ein Skandal.
Jetzt aber tut sich etwas – etwas überaus Bemerkenswertes. Am Dienstagabend haben sich die Bischöfe während ihrer Vollversammlung auf „echte“ Entschädigungszahlungen an Opfer verständigt. Noch muss man vorsichtig sein mit einer Bewertung, da Modell und Summen nicht feststehen. Das Signal ist gleichwohl deutlich und wichtig: Die katholische Kirche handelt freiwillig und weit über das rechtlich Vorgeschriebene hinaus, um Missbrauchsopfern nicht nur symbolisch, sondern tatsächlich zu helfen. Es geht um hohe Millionenbeträge.
Die Bischöfe zeigen damit, dass sie endlich verstanden haben: Dass es nicht mit Symbolen getan ist, dass gerade die Kirche voranschreiten muss, wenn sie ihre Botschaft der Nächstenliebe ernst nimmt. Opfer mussten lange dafür kämpfen und den Druck auf die Kirche aufrechterhalten.
Bleibt die katholische Kirche in Deutschland Volkskirche?
Doch auch Entschädigungszahlungen sind lediglich ein – weiterer – Anfang. Bislang befassten sich die Bischöfe vor allem mit Ausmaß und Auswirkungen des Missbrauchsskandals, nicht mit dessen Ursachen. Und so wird viel vom im Dezember startenden Synodalen Weg abhängen. Er wird zum Gradmesser ihrer Glaubwürdigkeit werden. Denn dann muss es um die strukturellen Risikofaktoren gehen, die Missbrauch begünstigen. Und diese liegen auch in der kirchlichen Sexualmoral, der priesterlichen Lebensweise und dem Klerikalismus. Der Synodale Weg jedoch wurde bereits nach Kräften sabotiert. Ohne tief greifende Änderungen aber wird sich nichts ändern.
Die katholische Kirche in Deutschland ist im Aufruhr. Kein Wunder: Es entscheidet sich jetzt, wie sie künftig aussieht. Bleibt sie Volkskirche oder zersplittert sie in Gruppen, die sich gegenseitig das Katholischsein absprechen? Sogar Abspaltungen scheinen realistisch geworden zu sein. Herr hilf!
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