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Kathedrale: Wie Frankreich über die Zukunft von Notre-Dame streitet

Kathedrale

Wie Frankreich über die Zukunft von Notre-Dame streitet

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    Nichts als Schutt: Ein Bauarbeiter steht im Inneren der Pariser Kathedrale Notre-Dame.
    Nichts als Schutt: Ein Bauarbeiter steht im Inneren der Pariser Kathedrale Notre-Dame. Foto: Philippe Lopez/AFP/AP, dpa

    Wie lässig der Bauarbeiter doch den Wasserschlauch in der Hand hält, mit dem er den Steinboden abspritzt. Er setzt dabei einen so unbeteiligten Gesichtsausdruck auf, als befände er sich in einem drittklassigen Bürokomplex und nicht auf Frankreichs berühmtester Baustelle. Gelbe Metallplanken sperren sie ab, darüber ist Stacheldraht angebracht. Nur auf Höhe des Haupteingangs gibt ein Gitter den Blick frei – auf den Arbeiter und seine Kollegen mit den Bauhelmen auf dem Kopf, wie sie zwischen sauber aufgereihten Gerüstteilen miteinander diskutieren. Und auf den Haupteingang der Baustelle namens Notre-Dame.

    Auf der anderen Seite der Metallstäbe sammeln sich Touristen, die versuchen, möglichst viel von der Kathedrale zu erhaschen. Von der berühmten Rosette, über der jetzt ein Loch klafft. Von den beiden Zwillingstürmen und den filigran ausgearbeiteten Figurenportalen, die dem verheerenden Brand am 15. April standhielten. Im Gegensatz zu einem großen Teil des Dachs und der Holzkonstruktion über dem Gewölbe, die die Flammen auffraßen.

    Nun ist die Frage, ob man die zerstörten Bereiche identisch rekonstruieren oder durch etwas Zeitgenössisches ersetzen soll. Präsident Emmanuel Macron ließ schnell durchscheinen, er könne sich einen „modernen Touch“ vorstellen. In der Folge breiteten Architektenbüros teils abenteuerliche Vorschläge in den Medien aus. Sie reichten vom Glasdach über ein Schwimmbad bis zu einem Treibhaus.

    Star-Architekt Rudy Ricciotti etwa, der unter anderem das Mucem-Museum in Marseille entworfen hat, ließ wissen, er würde das Gebäude gerne mit Beton als „äußerst umweltfreundlichem Material“ bearbeiten. Sein Architekten-Kollege Jean-Michel Wilmotte wiederum schlug die Verwendung von Stahl vor, der viel leichter sei als das Holz des zerstörten Vierungsturms.

    Modern oder originalgetreu - wie wollen die Franzosen Notre-Dame haben?

    Demgegenüber sprechen sich eine Mehrheit der Bevölkerung, Bürgermeisterin Anne Hidalgo und auch die Unesco, die Notre-Dame auf ihrer Weltkulturerbe-Liste führt, für einen authentischen Wiederaufbau aus. Die Selbstverwirklichung von Starkünstlern sei in diesem Fall nicht angebracht, sagt Architekt Jean Bocabeille. „Die Kathedrale Notre-Dame trägt das riesige Paradox in sich, ein architektonisches Werk ohne Architekt zu sein.“ Er plädiert für ein gemeinschaftliches, anonymes Werk von Nachwuchs-Talenten, die Materialien aus der Region verwenden und sich an eine strikte Budget-Grenze halten sollen. Derweil streiten die beiden Parlamentskammern über ein Gesetz, mit dem die Regierung Bauregeln, Umwelt- und Denkmalschutznormen aussetzen will, um die Arbeiten zu beschleunigen.

    Notre-Dame wirkt noch immer wuchtig; doch man weiß jetzt, dass der Eindruck der Unverwüstlichkeit täuscht. Das ganze Ausmaß der Zerstörung ist aus der Distanz kaum zu ermessen. Aber davon zeugen Bilder des demolierten Innenraums voller Schutt. Und vor allem die Videos vom Flammeninferno über der gotischen Kathedrale und dem erschütternden Moment, als der schlanke Vierungsturm in die Tiefe stürzte. „Wir haben es im Fernsehen miterlebt“, erzählt ein amerikanisches Paar mit betroffener Miene. „Es hat uns sehr schockiert. Notre-Dame ist das Juwel von Paris!“

    Am Tag danach versprach Macron, die Kathedrale würde „noch schöner als zuvor“ wieder aufgebaut – in nur fünf Jahren. Wahrscheinlich hatte er dabei die Olympischen Sommerspiele im Blick, die Paris 2024 ausrichtet. Bürgermeisterin Hidalgo, die auf ihre Wiederwahl im März 2020 hofft, äußerte sich ähnlich ambitioniert.

    Doch erst einmal muss analysiert werden, wie groß das Ausmaß der Zerstörung durch das Feuer und das Löschwasser ist. Parallel dazu laufen die Stützungsarbeiten. Der Stiftung Notre-Dame zufolge besteht „einer der komplexesten Aspekte“ zudem darin, das vor dem Brand errichtete Baugerüst mit seinen 50.000 Röhren zu entfernen, die das Feuer auf mehr als 800 Grad erhitzt hatte. Momentan ragt es wie ein Krater aus der Mitte der Kirche.

    In der Nachbarschaft hofft man, dass alles möglichst schnell geht. Hier auf der größeren der beiden Seine-Inseln, der Île de la Cité, nahm Paris vor mehr als 2000 Jahren seinen Anfang. Es hatte sich aus der keltischen Siedlung „Lutetia“ entwickelt. Heute wohnen nur wenige Menschen auf den Inseln; durch die schmalen Straßen flanieren vor allem Besucher, bislang angezogen von Notre-Dame, dem am häufigsten besuchten Monument Frankreichs. Rund 13 Millionen Menschen kamen pro Jahr in das 850 Jahre alte Gotteshaus. Auch wenn jetzt viele Neugierige das abgesperrte Gelände umrunden – eine Kathedrale in diesem Zustand zieht auf Dauer keine Massen an.

    Eine Luftaufnahme der Pariser Kathedrale Notre-Dame unmittelbar nach dem Großbrand im April zeigt die gewaltigen Schäden.
    Eine Luftaufnahme der Pariser Kathedrale Notre-Dame unmittelbar nach dem Großbrand im April zeigt die gewaltigen Schäden. Foto: Gigarama.Ru/AP, dpa

    Die Ladenbesitzer haben jetzt riesige Probleme

    „Es ist gar kein Vergleich“, sagt die Besitzerin eines Souvenir-Ladens in der Nähe des Westeingangs. Ratlos steht sie vor ihrer Boutique. „Früher war oft der gesamte Vorplatz voller Leute. Wir spüren den Einbruch sehr stark.“ Dasselbe berichtet Aline in der Eisdiele ein paar Meter weiter. „Ich schätze den Rückgang der Kunden auf 30 Prozent. Wir haben große Einbußen, dabei läuft das Geschäft ohnehin nur im Sommer.“ Sie habe gehört, dass die gelben Absperrungen durch transparente Planen ersetzt werden könnten – immerhin. Der Brand habe sie erschüttert, sagt die junge Frau mit der großen, runden Brille: Notre-Dame gehöre einfach zu ihrem Alltag. „Davon abgesehen müssen wir wegen der Partikel in der Luft alle unser Blut testen lassen und auch das Gebäude wurde auf gefährliche Rückstände hin untersucht.“ Rund 400 Tonnen Blei waren auf der Turmabdeckung und auf dem Dach verbaut. Über Stunden schmolz es bei dem Brand dahin.

    Vergangene Woche schreckte ein Bericht des investigativen Online-Magazins Mediapart auf, wonach die Öffentlichkeit nicht ausreichend über das wahre Ausmaß der Gefahr informiert worden sei. So liege die Blei-Konzentration im Inneren der Kathedrale bis zu 740 Mal und auf dem Vorplatz 500 Mal über dem erlaubten Grenzwert. Alarmierend hoch sei sie auch auf den Brücken und Straßen in der Umgebung.

    Die regionale Gesundheits-Agentur behauptet, es bedürfe „zum jetzigen Zeitpunkt keiner besonderen Schutzmaßnahmen“. Die hohen Blei-Werte hingen nicht unbedingt mit dem Brand zusammen. Neue Untersuchungen würden geführt und der Vorplatz gereinigt. Und hinsichtlich möglicher Gesundheitsrisiken hieß es, Vergiftungen seien sehr selten und entstünden meist in anderen Zusammenhängen als durch einen Brand.

    Und dann eben das Problem mit den fehlenden Einnahmen. Wirtschaftsminister Bruno Le Maire hat Hilfen in Höhe von insgesamt 350.000 Euro für diejenigen Geschäftsleute auf der Île de la Cité versprochen, deren Umsatz eine Million Euro im Jahr nicht übersteigt. Aber er mahnte gleichzeitig auch „längerfristige Überlegungen zum Überleben dieser Läden in den nächsten Jahren“ an.

    Vom Brandunglück betroffen sind auch die Gläubigen, die bislang immer die Gottesdienste besuchten. Die Diözese hat angekündigt, einen Andachtsraum auf dem Vorplatz der Kirche zu errichten, wo die Menschen die Beichte ablegen können, sobald die Sicherheitslage es zulässt. Zwei Monate nach dem Brand zelebrierte der Pariser Erzbischof Michel Aupetit im kleinen Kreis eine Messe. Alle Anwesenden trugen Bauhelme, und Baustellenlampen spendeten Licht.

    Nur langsam treffen die versprochenen Spenden ein

    Ein schneller Wiederaufbau dürfte zumindest nicht am Geld scheitern. In kurzer Zeit sammelten vier Stiftungen oder Vereine sowie der französische Staat eine Gesamtsumme von 850 Millionen Euro ein. Wohlgemerkt handelte es sich um Versprechen. Tatsächlich gingen bislang nur 80 Millionen ein. Die Besitzer der Konzerne LVMH, Kering und L’Oréal kündigten an, die jeweils versprochenen 200 beziehungsweise 100 Millionen Euro nach und nach zu überweisen. Der Stiftung Notre-Dame zufolge dürfte „der Gesamtbetrag, der für die Restaurierung notwendig ist, bis zum Frühling 2020 unbekannt bleiben“.

    Auch die Ermittlungen über die Brandursache erfordern einen langen Atem und werden sich wohl über Jahre hinziehen. Ende Juni bestätigte die Pariser Staatsanwaltschaft, dass es auch nach rund 100 Zeugenbefragungen „keinerlei Hinweise“ auf Brandstiftung gebe. Als wahrscheinlichste Ursache nannte sie eine weggeworfene Zigarette, einen Kurzschluss oder eine Störung des elektrischen Warnsystems. Inzwischen ermitteln drei Untersuchungsrichter gegen Unbekannt wegen „mutwilliger Sachbeschädigung“ und Verletzung der Sicherheitsvorschriften.

    Dass Arbeiter auf der Baustelle am Dachstuhl das Rauchverbot missachteten, ist inzwischen wohl belegt. Außerdem wurde bei der Sicherheit gespart, seit 2015 gab es statt zwei Planstellen nur noch eine. Der zuständige Sicherheitsbeauftragte am 15. April war noch neu im Job, und als der Feueralarm losging, konnte er die betroffene Stelle zunächst nicht zuordnen. 30 wertvolle Minuten vergingen, bis die Feuerwehr gerufen wurde. Bei ihrer Ankunft standen die Flammen schon meterhoch.

    Während bedeutende Reliquien wie die heilige Dornenkrone, die Tunika Saint-Louis und die weltberühmte Orgel gerettet werden konnten, verbrannte unter anderem das große Uhrwerk, das sich unter dem Vierungsturm befand. Ein Bauplan fehlte. Doch dann geschah etwas, das der Uhrmachermeister Jean-Baptiste Viot als „riesiges Glück“ bezeichnet: Bei der Inventur in der Pariser Kirche Sainte-Trinité entdeckte er ein fast identisches Uhrwerk mit einer ähnlich aufwendigen Zahnrad-Mechanik auf einem mehrere Meter großen Holzgestell – gefertigt ebenfalls im Jahr 1867 und in derselben Werkstatt.

    „Es ist, als fände man eine andere Ausgabe eines Buches, das verbrannt ist“, jubelte Viot. Das mache die originalgetreue Rekonstruktion des komplexen Mechanismus möglich. Und doch braucht es noch viel Geduld, bis die Glocken von Notre-Dame wieder läuten werden. Dass sie es schon in einigen Jahren tun werden, scheint aber sicher.

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