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Japan: Fünf Jahre nach der Katastrophe: So sieht es in Fukushima heute aus

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Fünf Jahre nach der Katastrophe: So sieht es in Fukushima heute aus

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    Yuzo Miharas Spielzeugladen liegt in der Sperrzone rund um das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi. Er und seine Frau dürfen viermal im Jahr zurückkehren, um nach dem Rechten zu sehen.
    Yuzo Miharas Spielzeugladen liegt in der Sperrzone rund um das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi. Er und seine Frau dürfen viermal im Jahr zurückkehren, um nach dem Rechten zu sehen. Foto: Franck Robichon, dpa

    Er hat sein Leben lang in Iitate gewohnt. Klar, dass der Mann dort seinen Lebensabend verbringen will. „Strahlung oder nicht, wir kehren zurück“, sagt Jun Sato, 67, ein ehemaliger Postmitarbeiter. Der Rentner sitzt im Wohnzimmer seines Hauses, einem makellos reinen Tatami-Zimmer, das mit Papierschiebewänden von Flur und Küche abgetrennt ist. Bisher darf Sato nicht über Nacht in seinem Haus bleiben. Es liegt in einer Sperrzone, die im Gegensatz zum engsten Radius um das Atomkraftwerk zwar zugänglich ist, in der aber noch niemand wohnen darf. Noch. Der Wiederbesiedlungsplan sieht vor, dass die Evakuierung für diesen Bereich im kommenden Jahr endet. Sato sagt: „Es heißt, dass die Strahlung Erwachsenen nicht mehr so viel ausmacht. Und meine Frau und ich sind wahrhaftig erwachsen genug.“

    Wenn er noch Kinder im Haus hätte, dann, ja dann würde er wegziehen. Hat er aber nicht. Also wollen er und seine Frau der Aufforderung Folge leisten und wieder einziehen. „Ich komme manchmal her, um nach dem Rechten zu sehen“, sagt Sato. Das ist eine Untertreibung, wie ein Blick in Flur und Küche verrät. Alles ist in perfektem Zustand, obwohl die Räume schon seit fünf Jahren nicht bewohnt sind. An den Bonsais vor der Tür ist jedes Blättchen perfekt gepflegt, kein Staubkorn verunziert die Tatamis, die speziellen Matten, mit denen Japaner ihre Fußböden zu belegen pflegen. „Ich bin ziemlich stolz auf mein Haus“, gibt Sato zu. „Tief drinnen bin ich sehr, sehr traurig, dass das alles passiert ist.“

    Das Haus von Herrn Sato liegt nur 36 Kilometer vom Kraftwerk Fukushima entfernt

    „Das alles“ ist die Atomkatastrophe von Fukushima im März vor genau fünf Jahren. Vor der japanischen Küste hatte sich das weltweit viertstärkste Erdbeben seit Beginn der Aufzeichnungen ereignet. Nach den Erschütterungen waren die Meiler in dem veralteten Kraftwerk

    Vom Fenster seines perfekt sauberen Wohnzimmers aus sind Reihen um Reihen schwarzer Säcke zu sehen, die sich auf einem Acker stapeln. Jeder ist so groß wie ein Kleiderschrank. Der Inhalt: verstrahlte Erde. In Iitate, einer Gemeinde mit sonst knapp 6000 Einwohnern, und den Nachbardörfern läuft eine monumentale Operation: die Dekontaminierung der Böden in der Strahlenzone. Die 20.000 Arbeiter haben mit ihren Baggern bereits über drei Millionen Säcke mit Erde gefüllt. Täglich werden es mehr. Die Regierung lässt die Erde dann in eigens gebauten Anlagen verbrennen, verscharrt die Asche in sogenannten „überwachten Endlagern" und lässt die Oberfläche der neuen Hügel begrünen. Das Problem fällt dadurch zumindest nicht mehr auf.

    Es ist ein höchst japanischer Vorgang, der da in Fukushima begonnen hat. Die Regierung zieht ihren Plan zur Herstellung von Normalität durch. Die örtlichen Bürgermeister spielen im Wesentlichen mit. Zum Teil sind sie gegenüber den Anweisungen aus Tokio hörig. „Wir halten durch! Wir lassen uns von der Strahlung nicht unterkriegen!“, lautet ein Spruchband in einem Dorf südlich der Reaktorruine.

    Die Bürger in Japan wollen nicht zur Last fallen

    Wichtiger ist aber eine besondere Eigenschaft des Landes: Japaner vermeiden es nach Möglichkeit, anderen zur Last zu fallen. Von klein auf bekommen sie gesagt, dass sie keinesfalls „meiwaku“ machen dürfen – sie sollen nicht anecken. Dazu kommt, dass die Betroffenen das Stigma als Strahlenopfer loswerden wollen. Also beißt die Bevölkerung die Zähne zusammen und geht zurück in die verschmutzte Zone. Wie der pensionierte Postbeamte Sato und seine Frau. „Es hilft halt nichts“, sagt er. „Außerdem weiß ja keiner, wie schlimm die Strahlung wirklich ist.“

    Das stimmt nicht ganz. Zumindest einer glaubt es ziemlich genau zu wissen: Yoichi Ozawa, der, ganz unjapanisch, eine enorme Meisterschaft darin entwickelt hat, „meiwaku“ zu machen, also anzuecken. Ozawa, 60, hat inzwischen Hausverbot im Rathaus seines Heimatortes Minami-Soma, der sich nordöstlich an Herrn Satos Heimatort Iitate anschließt. Er hat bei Gemeindeversammlungen zu viele unbequeme Fragen gestellt. Schlimmer noch, er hat genau die richtigen Fragen gestellt, und nur solche, auf die er die Antwort schon wusste. Auch das bringt Japan immer wieder hervor: engagierte Bürger, die gegen den Strich bürsten und mindestens so starrköpfig sind wie die Regierung.

    Ozawa kennt den Zustand in dem kontaminierten Gebiet ziemlich genau, weil er seit dem Reaktorunglück zu einem Experten für Strahlenmessung geworden ist. Derzeit schlägt er sich hauptberuflich mit Putzjobs durch. Doch ein Gammaspektrometer des amerikanisch-französischen Anbieters Canberra kann er meisterhaft bedienen, genauso wie andere Typen von Strahlenmessgeräten. Ozawa misst von morgens bis abends Radioaktivität. Überall da, wo Fallout, radioaktiver Niederschlag, heruntergekommen ist. „Das ist zu meiner Lebensaufgabe geworden“, sagt er.

    Die ehrenamtliche Arbeit ist anstrengend und gefährlich. Sie bedroht seine Gesundheit. Doch er macht weiter. Immer wieder stößt er in die verstrahltesten Ecken seiner Heimat vor, um ihren Zustand zu bestimmen. Viele von den willigen Rückkehrern sind von dem „unheimlichen Onkel mit dem Geigerzähler“ genervt. Das Knacken des Geräts verbreitet Unsicherheit, wo die Leute ihre Nervosität unterdrücken wollen. Daher ist er vor ihrer Haustür nicht gern gesehen.

    Reaktorruine von Fukushima inzwischen einigermaßen stabil

    Auch wenn die Reaktorruine inzwischen einigermaßen stabil ist – in den Wäldern an den Berghängen befindet sich noch für Jahrhunderte ein Vorrat an strahlendem Staub. Das ist Ozawa zufolge die Quelle der immer neuen Verschmutzung. Gerade bei trockenem Wetter weht der Wind die Partikel in die umliegenden Städte und Dörfer. Wenn das stimmt, wird es mit der Verschmutzung weitergehen, auch wenn die Regierung die Erde auf den Feldern und Gärten abtragen lässt. Schlimmer noch: Wenn hier wieder Familien wohnen, was hindert die Kinder und die Heranwachsenden wirklich daran, in den Wald zu gehen?

    Ozawa sitzt mit dem pensionierten Postmeister Sato im Wohnzimmer. Wie in Japan üblich, hocken sie auf dem Boden. Sie strecken ihre Beine unter den niedrigen Tisch, denn nur dort ist es warm, einem kleinen Heizstrahler sei Dank. „Rufen Sie an, wenn ich Ihr Grundstück durchmessen soll“, bietet Ozawa an und gibt Sato seine Visitenkarte. „Das hilft Ihnen, und es hilft uns.“

    Ozawa ist Mitglied eines Vereins, der die Behauptungen der offiziellen Stellen infrage stellt. Er heißt „Fukuichi-Strahlenmessungsprojekt“. Etwa 20 Mitglieder laufen Straßen und Waldwege ab und kommen zu interessierten Bürgern nach Hause, um den Zustand der Region zu dokumentieren. Sie bringen Messgeräte mit und nehmen Proben, um mit dem Spektrometer die Verteilung radioaktiver Isotope zu bestimmen. Ihr Labor haben sie in einem Schuppen auf dem Hof eines Bauern eingerichtet, der sie unterstützt.

    Die Katastrophe von Fukushima in Zahlen

    Ein Erdbeben und eine Flutwelle haben am 11. März 2011 zum Atomunfall von Fukushima in Japan geführt. Die Katastrophe in Zahlen:

    9,0 erreichte das Beben auf der Richterskala. Damit war es das schwerste Erdbeben in Japans Geschichte.

    Bis zu 30 Meter hoch war der Tsunami, der mehr als 260 Küstenstädte verwüstete.

    40 Jahre kann es nach Angaben des Fukushima-Betreibers Tepco dauern, bis das Kraftwerk endgültig gesichert ist.

    11.500 Tonnen radioaktiv verseuchtes Wasser wurden ins Meer geleitet.

    19.000 Menschen kamen durch die Flutwelle ums Leben oder werden bis heute vermisst.

    Eine Million Häuser wurden komplett zerstört oder beschädigt.

    Die Ergebnisse sind eindeutig. Andere Organisationen kommen zu denselben Resultaten. Auch heute noch lauern üble Nester radioaktiver Verschmutzung. Ihr Auftreten ist unberechenbar: Mal ist eine Straßenseite stark kontaminiert, mal die andere nur leicht. So richtig still sind die Massgeräte hier aber nirgends. Das widerspricht der Behauptung der Regierung, dass die Verschmutzung derzeit bereits auf ein akzeptables Niveau absinke.

    Schüler sollen 2017 wieder in die Region Fukushima zurückkehren

    Ozawa lässt den Strahlensensor neben einer Turnhalle über dem Boden pendeln. Das Gerät schlägt heftig aus, ein gelegentliches Knacken aus dem Geigerzähler geht zu Dauerfeuer über: tack – tack, tack tack tack, tacktacktack. Zehn Mikrosievert pro Stunde. Das überschreitet den deutschen Grenzwert für Strahlenbelastung um das 90-fache. Es handelt sich um die Turnhalle der Mittelschule von Iitate in der Nachbarschaft von Herrn Sato.

    Ab 2017 sollen hier wieder Schüler im Alter von 13 bis 15 Jahren spielen. Die Regierung lässt derzeit die Auflösung ihres Evakuierungsbefehls vom Sommer 2011 vorbereiten. Sato und Ozawa wissen: Die Mehrheit der Eltern wird mitmachen und in ihre Häuser zurückkehren – so wie Rentner Sato, der das Dasein in einer schmucklosen Zweizimmerwohnung in der Präfektur-Hauptstadt Fukushima satthat.

    Also wollen die Leute das glauben, was die Regierung ihnen auf allen Kanälen sagt: „Alles ist schon irgendwie in Ordnung.“ Nicht das, was Kritiker wie Ozawa behaupten: „Dieser Landstrich ist eigentlich unbewohnbar.“ Die Wahrheit liegt – wie so oft – dazwischen. Bisher ist kein Todesfall durch den Fukushima-Unfall eindeutig nachgewiesen. Die Frage, wie viele (künftige) Krebserkrankungen damit zusammenhängen, gleicht einem Glaubenskrieg. Fakt ist: Dass die Leukämie eines Kraftwerks-Angestellten durch den Unfall verursacht wurde, hat selbst die Regierung bestätigt. Die Prüfung weiterer Fälle läuft noch.

    Der Grund für die festgestellten höheren Schilddrüsenkrebsraten bei Kindern in der Präfektur Fukushima ist schon umstrittener. Klar dürfte zumindest sein, dass durch die schnelle Wiederbesiedlung der Strahlenzone das Risiko steigt, dass Kinder zu Schaden kommen.

    In der Vergangenheit hat die Regierung in Tokio Kritiker, die vor hohen Tsunamis an der Küste Nordostjapans gewarnt haben, als Spinner abgetan. Jetzt macht sie das Gleiche mit denen, die vor künftigen Strahlenschäden warnen.

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