Die Bühne, auf der Gabriele Pagliarani auch an diesem Morgen steht, ist bis ins kleinste Detail arrangiert. Hinten brechen sich die sanften Wellen der Adria, der Sand ist warm und weich wie eh und je. 200 Sonnenschirme werfen angenehmen Schatten, fast alle Liegestühle sind leer. Der Bademeister steht auf dem Holzweg zum Strand, hier ist er der Hauptdarsteller. Nur fehlt das Publikum, ohne das einer wie Pagliarani wie ein Fisch auf dem Trockenen sitzt.
"Ciao ragazzi", sagt der Chef des Strandbad Nummer 26 in Rimini beinahe fürsorglich, als eine Gruppe jüngerer Italiener vorbeiläuft. Die beiden "z" zischen wie bei allen, die hier in der Emilia-Romagna zuhause sind. "Wir sind gastfreundlich, offen, fröhlich, unbeschwert", so beschreibt der legendäre Strandbad-Betreiber sich und seine Landsleute, die in diesem Sommer auf das Wichtigste für Menschen dieser Art verzichten müssen. Auf die Adressaten ihrer fröhlichen Zuvorkommenheit. Auf ihre Gäste.
Italien ist nach dem Corona-Lockdown zwar wieder offen. Auch die Italiener selbst dürfen sich im Land frei bewegen. Aber Pagliaranis Publikum lässt noch auf sich warten. Aus Angst vielleicht vor möglichen Ansteckungen. Schließlich waren Italien und auch Rimini besonders vom Coronavirus betroffen. Viele Menschen sparen für den nächsten Notfall, obwohl die Regierung weniger wohlhabenden Landsleuten einen Ferienbonus von bis zu 500 Euro spendieren will. Anfang Juni kam auch noch schlechtes Wetter dazu, normalerweise ist im Bagno 26 schon an Pfingsten alles voll.
Ein paar Leute sind da, alles Italiener. Links neben dem hölzernen Laufsteg, der zum Wasser führt, hat sich eine tätowierte Signora im Liegestuhl niedergelassen. Rechter Hand etwas weiter vorne, haben die Ragazzi ihr Lager aufgeschlagen. Das Meer rauscht, der Sand reibt auf der Haut, es duftet nach Kokosöl. Alles wie immer im Strandbad 26. Wäre da nicht diese Leere. Ausländische Touristen, das Salz in der Rimineser Suppe? Fehlanzeige!
83 Sonnenschirme weniger als sonst durfte Pagliarani wegen der neuen Sicherheitsvorschriften aufstellen. Aber wenn man sich anschaut, wie wenig hier los ist, sind es immer noch viel zu viele. "Ich bin traurig", sagt Pagliarani, der sich nach zahlreichen Auftritten im italienischen Fernsehen den inoffiziellen Titel als "Bademeister Italiens" verdient hat. Sympathisch, immer ein Spruch auf den Lippen, mit früheren Stranderoberungen protzend. "Guarda che bella", sagt er über eine ältere Dame, die gerade mit ihrem Begleiter hereinspaziert. "Was für eine Schöne".
Die finanziellen Einbußen sind das Eine, der fehlende Kontakt, der Gastgeber ohne Gäste, der Hauptdarsteller ohne sein Publikum und seine Bewunderer, sind das Andere. Nicht leicht zu sagen, was für Pagliarani schwerer wiegt.
In Rimini hofft man nun auf den Hochsommer
Rimini war vor Jahrzehnten als Teutonengrill verschrien, davon kann schon länger nicht mehr die Rede sein. Und schon gar nicht in diesem Jahr. Normalerweise zählt man hier 17 Millionen Übernachtungen in etwa 1200 Hotels, im Juni sind gerade mal ein Drittel von ihnen geöffnet. Längst haben viele Deutsche dem Massenspektakel Rimini den Rücken gekehrt, dann kamen die Russen. Die Russen fehlen dieses Jahr aber auch wegen Corona. In den letzten Jahren sollen wieder mehr Deutsche gekommen sein, die die Rimini-Mischung aus Adria, Frohsinn, Party, Pasta als unwiderstehlich empfanden.
Jetzt hoffen sie in der Küstenstadt auf den Hochsommer. Rimini putzt sich heraus. Auf der Piazza Cavour in der Altstadt lassen die Betreiber eines Cafés die Holzbohlen erst jetzt ein, normalerweise passiert das im Mai. Mehrere Straßenkehrer fegen den längst sauberen Gehsteig. Die Rimineser haben ihre Geschäfte wieder aufgenommen, viele fahren mit dem Rad. Das Reiben der Fahrradketten am Kettenschutz, gemischt mit dem Geräusch der Besen der Straßenkehrer, das ist der Klang dieser Tage an der Riviera.
An der Piazza Cavour hat auch Andrea Gnassi sein Büro. Der Bürgermeister ist seit 2011 im Amt und man kann ihn durchaus als Protagonisten bei der Verwandlung Riminis bezeichnen. Über Corona will Gnassi nicht mehr reden, über die Angst der Gäste schon gar nicht. "Wer zu uns kommt, ist sicherer als im Rest Europas", behauptet er. Man habe die Sicherheitsvorschriften mehr als akribisch befolgt. Und an Platz, insbesondere am Strand, mangele es nun wirklich nicht. Gnassi schwärmt lieber von den großen Projekten, die seine Stadtverwaltung ins Rollen gebracht hat und die Rimini um ein paar wichtige Puzzlestücke bereichern sollen.
Da wäre zum Beispiel der bereits weit fortgeschrittene Komplettumbau der Strandpromenade in eine autofreie Flaniermeile. Die gesamte Entwässerung samt Reinigungspumpen, die bislang die Abwässer der Ferienstadt ins Meer leiteten, wird aufwändig erneuert. Und das Fellini-Museum, das zum Jahresende fertig werden soll. Italiens berühmtester Regisseur Federico Fellini wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Der fünffache Oscarpreisträger gilt als Verkörperung der Seele Riminis, seiner Geburtsstadt, die er etwa im Film "Amarcord" (1973) verewigt hat. "Amarcord" ist ein rimineser Dialekt-Ausdruck und heißt so viel wie: Ich erinnere mich.
Der Bürgermeister sagt: Es ist Zeit für Leichtigkeit, für ein Lächeln
Als Gnassi vom neuen Platz der Träume, einem Teil des fertig zu stellenden Fellini-Museums schwärmt, pfeift er ein Stückchen Filmmusik. Illusion, Fantasie, Emotionen, Träume – all das will Rimini auch für seine Besucher wieder sein. "Nach dem Lockdown ist es jetzt Zeit für Leichtigkeit, für ein Lächeln", sagt der Bürgermeister.
Wahrscheinlich ist diese Kombination aus freundlicher Sorglosigkeit, Unterhaltung und einem Schuss Übertreibung das eigentliche Talent Riminis, das gerade nicht ausgespielt werden kann. Im Jugendstil-Kino Fulgor in der Innenstadt sah Fellini seine ersten Kinofilme. Der Saal "Federico" ist von überwältigendem Hollywood-Kitsch, aber macht Lust auf Kino. Aber auch hier: "chiuso", geschlossen bis September. Das Riesenrad am Hafen steht still. Die blau-weiße Touristenbahn bummelt ohne Fahrgäste am Hafenkanal entlang.
Auf zum Aperitif im Grand Hotel an der Strandpromenade, wo Francesca Fabbri Fellini, die Nichte des Großmeisters, an einem gusseisernen Tisch im Garten wartet. Im Garten plätschert ein Brunnen, leise Salonmusik ist zu hören. Die Vögel zwitschern. Das Grand Hotel gehört zum Rimini-Spektakel, Italiens berühmtester Rock-Sänger Vasco Rossi ist gerade zu Besuch. Draußen am Zaun drängeln sich die Groupies. Drinnen klassizistische Grandezza, livrierte Diener. Fellini hat das Grand Hotel in "Amarcord" verewigt, er lässt hier einen Scheich samt Harem residieren, der schließlich einen einfachen italienischen Strandverkäufer verführt. Im Grand Hotel werden italienische Männerträume wahr.
Die Nichte Fellinis hingegen wirkt relativ gut verankert in der Realität. Auch sie macht inzwischen Filme. Rimini werde wieder aufstehen, sagt die 55-Jährige. "Wir aus der Romagna haben einfach Lust auf das Leben." Fabbri Fellini erinnert an die Algenplage in der Adria 1989, die einen ähnlich verheerenden Effekt auf den Tourismus hatte wie nun die Pandemie. "Wir sind wieder aufgestanden, das Leben ging weiter", sagt sie. Rimini sei wie eine charakterstarke ältere Dame, die gerade eine kleine Pause einlegen muss, sich aber schon für den nächsten Auftritt schminkt. Sie sagt den Satz, es donnert, ein Gewitter zieht heran. Als habe Onkel Federico als Gruß einen seiner Spezialeffekte gezündet.
"Die Deutschen würden es lieben hier", sagt Philipp Dornebeck
Es ist noch Zeit für einen weiteren Abstecher zum Strand. Leere Stuhlreihen, wohin das Auge reicht. Ganz vorne sitzt ein junger Mann in roter Badehose, alleine unter dem Sonnenschirm. Philipp Dornebeck ist mit Frau Julia und Sohn Moritz aus Marl in Nordrhein-Westfalen mit dem Auto gekommen. "Keine Kontrollen auf der Fahrt, gar nichts!"
Dornebeck ist als deutscher Tourist in diesem Sommer bislang eine Art Rarität in Rimini. Seinem Sohn, der gerade im Hotel schlummert, hat er einen Krebs gefangen und im blauen Eimer aufbewahrt. Norddeutschland wäre der Plan B im Corona-Sommer gewesen, aber sie kamen hierher, sein italienischer Ex-Schwager hatte Entwarnung gegeben. Von wegen Plexiglasabsperrungen am Strand, von wegen maximal 20 Minuten im Wasser. Alles wie immer.
"Eine super Sache, wir sind total entspannt", sagt der 33-Jährige. Die Italiener liebten Kinder, die Stadt sei sicher, das Meer klarer als sonst, kaum Leute, das Essen fantastisch, die Preise gut. "Die Deutschen würden es lieben hier."
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