Am zweiten Tag nach dem verheerenden Brücken-Einsturz in Genua mit rund 40 Toten schwindet die Hoffnung, noch Überlebende zu finden. "Leider ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich unter den Trümmern weitere Opfer befinden, sehr hoch", sagte der italienische Innenminister und Vize-Regierungschef Matteo Salvini am Mittwochabend dem Fernsehsender La7.
Brückeneinsturz in Genua: Staatsanwalt befürchtet bis zu 20 Vermisste
Für die 39 offiziell bestätigten Toten soll es am Samstag ein Begräbnis geben, erklärte Regierungschef Giuseppe Conte auf Facebook. Für den Tag soll auch eine Staatstrauer gelten. Die Staatsanwaltschaft hatte die Zahl der Toten am Mittwoch sogar mit 42 beziffert. Unter den Opfern sind mindestens drei Minderjährige im Alter von 8, 12 und 13 Jahren. 15 Menschen sind der Präfektur zufolge verletzt, neun von ihnen befinden sich in einem kritischen Zustand.
Es werde erwartet, dass die Zahlen weiter steigen, sagte Regionalpräsident Giovanni Toti laut Nachrichtenagentur Ansa nach einem Besuch von Verletzten in einem Krankenhaus zusammen mit Regierungschef Giuseppe Conte. Für den Großteil der Verletzten gebe es gute Heilungschancen. Es gebe aber unter der Brücke noch immer "zahlreiche Vermisste", sagte Toti.
Auch die Staatsanwaltschaft in Genua befürchtet, dass sich noch zahlreiche Vermisste unter den Trümmern der am Dienstag eingestürzten Autobahnbrücke befinden. "Es könnte noch zehn bis 20 vermisste Personen geben", sagte der leitende Staatsanwalt Francesco Cozzi laut Nachrichtenagentur Ansa am Donnerstag in der italienischen Hafenstadt.
An der Kante der Autobahnbrücke steht ein Laster mit laufendem Motor
Auf dem stehen gebliebenen Rest der Brücke stand am Donnerstagmorgen weiterhin der inzwischen durch Fotos berühmt gewordene grüne Lkw kurz vor dem Abgrund - mit immer noch laufendem Motor. Sein Fahrer war nach dem Unglück in Panik aus dem Laster gesprungen und davongerannt, ohne den Motor auszustellen. Auch die Scheibenwischer liefen weiterhin, weil es zum Zeitpunkt des Brückeneinsturzes geregnet hatte. Nach Angaben der Spedition hat der Lkw genug getankt, um noch tagelang laufen zu können.
Regierung stellt fünf Millionen Euro Nothilfe bereit
Die Regierung hatte am Mittwoch den Notstand für die Hafenstadt verhängt und fünf Millionen Euro Nothilfe bereit gestellt. Das Dekret soll ermöglichen, "erste wichtige Maßnahmen zu treffen, um dem Ausnahmezustand zu begegnen", erklärte Conte. Dazu gehöre, schnellstmöglich die Sicherheit in der betroffenen Region der Stadt zu garantieren und Betroffenen zu helfen. Der Notstand soll zwölf Monate gelten und in diesem Zuge auch ein Sonderbeauftragter für den Wiederaufbau benannt werden.
Vieles deutet darauf hin, dass die Brücke abgerissen und eine neue errichtet werden soll. Die Tragödie hat Hunderte Menschen obdachlos gemacht: Sie mussten ihre Häuser nahe der Brücke aus Sicherheitsgründen verlassen - und das möglicherweise für immer. "Bis Ende dieses Jahres werden wir all diesen 634 in Sicherheit gebrachten Genuesen ein neues Zuhause geben", versprach Salvini.
In Italien mehren sich die Schuldzuweisungen
Derweil mehren sich in Italien die Schuldzuweisungen. Während die Rettungskräfte am Mittwoch noch immer Leichen zwischen den gewaltigen Trümmern bargen, machten Regierungsmitglieder den privaten Betreiber der Autobahn für das Unglück verantwortlich. Innenminister Matteo Salvini zeigte mit dem Finger gar in Richtung EU. Seiner Ansicht nach untergraben die europäischen Vorgaben zum Haushaltsdefizit die Sicherheit des Landes.
Unter den Toten der Katastrophe sind auch vier Franzosen. Man stehe in engem Kontakt zu den italienischen Behörden, um herauszufinden, ob möglicherweise noch weitere Landsleute bei der Katastrophe ums Leben gekommen seien, teilte das französische Außenministerium mit. Zwei rumänische Staatsbürger wurden ebenfalls identifiziert, teilte das Außenministerium in Bukarest mit. Ob möglicherweise Deutsche unter den Opfern sind, war nicht bekannt. Aus dem Auswärtigen Amt in Berlin hieß es, das Generalkonsulat Mailand stehe in engem Kontakt mit den italienischen Behörden.
Während eines schweren Unwetters war am Dienstagmittag der Polcevera-Viadukt, der auch Morandi-Brücke genannt wird, in mehr als 40 Metern Höhe auf einem etwa 100 Meter langen Stück eingestürzt. Die Brücke ist Teil der Autobahn 10, die auch als Urlaubsverbindung "Autostrada dei Fiori" bekannt und eine wichtige Verbindungsstraße nach Südfrankreich, in den Piemont und die Lombardei ist.
Gegen den Betreiber Autostrade per l'Italia seien Schritte eingeleitet worden, um die Lizenz für die Straße zu entziehen und eine Strafe von bis zu 150 Millionen Euro zu verhängen, erklärte Verkehrsminister Danilo Toninelli am Mittwoch auf Facebook. Er forderte das Management zum Rücktritt auf. Auch der Fünf-Sterne-Chef und Vize-Ministerpräsident Luigi Di Maio machte das Unternehmen für die Tragödie verantwortlich.
Staatsanwalt: Ermittler gehen von menschlichem Versagen aus
Auch Innenminister Matteo Salvini sprach sich für einen Entzug der Lizenz aus. Das sei das Mindeste, was man erwarten könne. Ihm zufolge stehen der Sicherheit des Landes aber auch die strengen europäischen Defizitregeln im Wege: Geld, das für die Sicherheit ausgegeben werde, dürfe "nicht nach den strengen (...) Regeln berechnet werden, die Europa uns auferlegt", sagte der EU-kritische Politiker am Mittwoch dem Sender Radio24. "Immer muss man um Erlaubnis fragen, um Geld auszugeben", prangerte er an. Davon dürfe aber nicht die Sicherheit auf den Straßen, bei der Arbeit und in den Schulen, "in denen immer mal wieder die Decken einstürzen", abhängen.
Augenzeugen hatten berichtet, dass kurz vor dem Einsturz ein Blitz in die Brücke eingeschlagen habe. Doch Staatsanwalt Francesco Cozzi ließ im Gespräch mit RaiNews24 erkennen, dass auch die Ermittler von menschlichem Versagen als Ursache ausgehen. Zum jetzigen Zeitpunkt von einem Unglück zu reden, obwohl es sich bei der Brücke um ein "Werk von Menschen" handele, das Instandhaltungen unterzogen worden sei, "erscheint mir ziemlich gewagt", sagte Cozzi.
Die Infrastruktur in Italien ist vielerorts dramatisch veraltet. Die Katastrophe an der "kranken Brücke", wie Corriere della Sera sie nennt, lässt nach mehreren weniger dramatischen Einstürzen in den vergangenen Jahren nun die Alarmglocken umso lauter schrillen. Laut der Tageszeitung La Repubblica sind um die 300 Brücken und Tunnel marode.
Bauarbeiten am Polcevera-Viadukt während der Tragödie
Der Polcevera-Viadukt wurde 1967 eingeweiht und führt im Westen von Genua unter anderem über Gleisanlagen und ein Gewerbegebiet führt, hat eine Gesamtlänge von 1182 Metern. Zum Zeitpunkt der Tragödie waren laut Betreibergesellschaft Bauarbeiten im Gange. (dpa/AZ)
Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.