Herr Wallraff, 60 Jahre „Bild“. Ist das ein Grund zur Freude?
Wallraff: Das ist wirklich kein Anlass zum Feiern. Immer noch beugen sich viele Politiker der Macht und lassen sich von Bild vereinnahmen: Sie denken, sie könnten mit Bild Politik machen. Leider gibt es nur noch wenige, die der Zeitung die Stirn bieten und sich verweigern. Auch für viele Medien ist Bild inzwischen ein Leitmedium. Sie ist eine Art Suchtmittel und gibt Themen vor.
Helmut Schmidt sagte einmal, es komme einem politischen Selbstmord gleich, sich mit der Springer-Presse anzulegen.
Wallraff: Bild versucht, bestimmte Politiker aufzubauen und so selbst politisch an Einfluss zu gewinnen. Das wird deutlich an Guttenberg, den Bild als Bundeskanzler hochschreiben und in Stellung bringen wollte. Selbst als er wegen seiner Doktorarbeit zu Fall kam, hielten sie noch in Vasallentreue zu ihm. Bei Wulff war es umgekehrt: Er hat sich zwar auch Bild hingegeben, Berichte aus seinem Privatleben zugelassen und lanciert. Doch für Bild hat er dann zu viel über Integration geredet. Spätestens, als er meinte, der Islam gehöre zu Deutschland, war die Freundschaft vorbei und die Hetzjagd begann.
Lesen Sie denn jeden Tag „Bild“?
Wallraff: Nein, äußerst selten, nur wenn’s unbedingt sein muss. Das ist eine publizistische Umweltverschmutzung. Wenn man sie zu oft liest, verkleistert es das Gehirn.
Hat die Zeitung aus Ihren Enthüllungen in den 70er Jahren gelernt?
Wallraff: Sie fällt immer wieder in alte Muster zurück. Aber ich muss sagen, hie und da ist die Gangart in den letzten Jahren milder geworden, zum Beispiel in der Hetze gegen Einwanderer und Ausländer, die permanente Diffamierung der sogenannten „Pleitegriechen“ einmal ausgenommen. Bild will zeigen, dass sie auch anders kann. Denn auch Bild verliert stark an Auflage. Ich kann mir vorstellen, dass das Blatt jetzt andere Käuferschichten erschließen will.
Es heißt, „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann hätte Sie kontaktiert, um sich mit Ihnen zu versöhnen?
Wallraff: Nach einem äußerst kritischen Beitrag über Bild für die Otto-Brenner-Stiftung rief mich Chefredakteur Diekmann an. Er meinte, ich würde der Zeitung unrecht tun. Daraufhin forderte ich, dass er endlich aufklären solle, was im November 1976 geschehen ist, als mein Telefon von Bild durch Unterstützung des BND abgehört wurde. Und in der Tat: Diekmann begann, ernsthaft und akribisch zu recherchieren. Immerhin, guter Wille und Aufklärungsabsicht waren erkennbar.
Das Leben von Günter Wallraff
Der Schriftsteller Günter Wallraff wurde am 1. Oktober 1942 in Burscheid (Nordrhein-Westfalen) geboren.
Zwischen 1963 und 1965 war Wallraff als Arbeiter in Großbetrieben tätig, unter anderem in einem Stahlwerk von Thyssen. Er konnte seine Recherchen unerkannt fortsetzen, indem er stets eine andere Identität annahm.
So erschienen 1969 „13 unerwünschte Reportagen“, für die er beispielsweise in die Rolle eines Alkoholikers in einer psychiatrischen Klinik, eines Obdachlosen oder eines Studenten auf Zimmersuche schlüpfte.
1977 arbeitete Wallraff dreieinhalb Monate lang als Redakteur bei der „Bild“-Zeitung in Hannover.
In dem Bestseller „Der Aufmacher. Der Mann, der bei ,Bild‘ Hans Esser war“, schilderte er seine Erfahrungen in der Lokalredaktion und wies der Zeitung schwere journalistische Versäumnisse nach.
1979 erschien das Buch „Zeugen der Anklage. Die ,Bild‘-Beschreibung wird fortgesetzt“.
Ab 1983 arbeitete Wallraff zwei Jahre lang als türkischer Gastarbeiter „Ali“ bei verschiedenen Unternehmen, unter anderem bei McDonald’s und Thyssen.
Außerdem nahm er an klinischen Studien im Bereich der Pharmaforschung teil. Seine als äußerst negativ empfundenen Erfahrungen, vom Umgangston gegenüber Gastarbeitern bis hin zur Verletzung von Arbeitsschutzregeln, beschrieb er in dem Buch „Ganz unten“. (dmai)
Am 23. Juni will Bild eine Gratis-Zeitung an alle Haushalte in Deutschland verteilen. Was halten Sie davon?
Wallraff: Na ja, man kann ja nicht alle Briefkästen in Deutschland zulöten oder zukleben.
Bei aller Kritik: Springer entwickelt im Bereich der neuen Medien neue Konzepte, bringt die Branche voran ...
Wallraff: Dazu kann ich nichts sagen, da kenne ich mich zu wenig aus.
Die „Welt am Sonntag“ behauptete unlängst, dass ein enger Mitarbeiter von Ihnen Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi gewesen sei und an Ihrem Buch „Ganz unten“ mitgearbeitet hat.
Wallraff: Alle Jahre wieder versucht die Springer-Presse, mich öffentlich hinzurichten. Eigentlich sind die Dinge geklärt. Es gibt ein Gerichtsurteil, das der Welt verbietet, mich wegen einzelner Kontakte in den Jahren 1968 bis 1971 als IM (Inoffizieller Mitarbeiter, d. Red.) zu bezeichnen. Jedoch hat der Springer-Konzern noch nicht begriffen, dass wir in einem Rechtsstaat leben. Die Hetze der Welt am Sonntag über vier Seiten, die montags wörtlich wiederholt wurde, stellte Bild noch in den Schatten. Mir scheint: Sie brauchen ihre Feindbilder und haben ohne sie keine Daseinsberechtigung mehr! Dass einer meiner Mitarbeiter Kontakte zur Stasi hatte, konnte man bereits in den 90er Jahren einer Pressemeldung entnehmen. Er hat für mein Buch „Ganz unten“ recherchiert, das stimmt. Aber dass da die Stasi Einfluss auf mein Buch nehmen konnte, ist absoluter Unsinn.
Im Herbst werden Sie 70. Machen Sie weiter?
Wallraff: Ich fühle mich heute jünger als vor zehn Jahren. Ich habe noch einiges vor, da reicht ein Leben nicht aus. Ende Mai werde ich eine neue Arbeit veröffentlichen. Auch dabei geht es um Menschenrechtsverletzungen, um moderne Sklavenarbeit.