Frau Koschitz, in Ihrem neuen Film „Auf dünnem Eis“ wird ein deutsches Tabuthema aufgegriffen: die Armut hierzulande. Der Film beruht auf einem persönlichen Erlebnis der Produzentin Beatrice Kramm, auf deren Autostellplatz ein Obdachloser im Winter einen geschützten Ort suchte. Bei minus 15 Grad starb der Mann. Wie konnte das passieren?
Julia Koschitz: Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ein Obdachloser in diesem sehr kalten Winter auf dem überdachten Garagenstellplatz von Frau Kramm sein Lager aufgestellt hat. Sie und die Hausbewohner haben den Mann aber nicht wirklich kennengelernt, weil er ihre Hilfe nicht in Anspruch nehmen wollte. Er wollte nur dort übernachten. Tragischerweise hat er diesen kalten Winter nicht überlebt. Das war tatsächlich der Auslöser für die Geschichte des Films.
Der Film gibt dem obdachlosen Mann, stellvertretend für tausende andere Betroffene, eine Geschichte. Glauben Sie, dass das Thema mit dem Film mehr öffentliche Aufmerksamkeit bekommt?
Koschitz: Man hofft immer, dass man Menschen mit einem Film zum Nachdenken anregt, und natürlich wäre es schön, wenn wir den ungehörten Obdachlosen eine Aufmerksamkeit geben können. Ich würde aber nicht sagen, dass wir einen Film rein über Obdachlosigkeit gemacht haben. Dazu bleibt seine Lebensgeschichte zu vage. Unser Film vereint mehrere Themen, wie vor allem die Auseinandersetzung mit dem Umstand, wie brüchig der Boden ist, auf dem unser aller Lebenskonstrukte stehen. Und wie schnell man denkt, so etwas würde einem selbst nie passieren.
Julia Koschitz: "Man hofft immer, dass man Menschen mit einem Film zum Nachdenken anregt."
Schon der Filmtitel besagt, wie dünn das Eis unseres Wohlstands ist und wie schnell jeder in prekäre Verhältnisse rutschen kann. Warum tun wir im Alltag oft so, als ginge uns das Thema nichts an?
Koschitz: Weil wir gerne Dinge verdrängen, die uns Angst machen. Das ist nicht schlau, aber eben auch menschlich. Ich glaube, wir gehen der eigenen Ungewissheit des Lebens oft aus dem Weg. Wenn man das aber so weit führt, dass man sich einbildet, man habe mit Menschen vom Rand der Gesellschaft nichts zu tun, dann ist das ein Problem.
Wissen Sie, dass in der Europäischen Union heute 70 Prozent mehr Obdachlose leben als noch vor zehn Jahren? Jede Nacht sind mehr als 700.000 Menschen ohne Dach über dem Kopf. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie solche Zahlen hören?
Koschitz: Diese Zahl kannte ich nicht. Sie ist erschreckend!
Gerade in Ballungsräumen steigen beispielsweise auch die Mieten unaufhörlich. Immer mehr Menschen können sie sich nicht mehr leisten. In München sind im vergangenen Jahr die Anträge auf eine Sozialwohnung coronabedingt um 13 Prozent gestiegen. Die Wartezeit kann bis zu zwei Jahre betragen.
Koschitz: Das ist ein Thema, das ich auch sehr schwierig finde. Ich lebe in München und halte die steigenden Mieten hier zum Beispiel für eine Katastrophe. Dadurch werden zahlreiche Menschen aus den Städten vertrieben. Auch die, deren Arbeitskraft wir wirklich dringend brauchen, wie zum Beispiel Pflegepersonal oder andere unterbezahlte Berufsgruppen.
Kann man sagen, dass Sie auffällig oft bei Produktionen mitspielen, die einen sozialkritischen Hintergrund haben? Oder täuscht der Eindruck?
Koschitz: Ui! Sagen wir mal, ich hoffe, Sie meinen, dass ich in Filmen mitspiele, die in irgendeiner Weise relevant sind. Zumindest versuche ich, bei Projekten dabei zu sein, die ich für erzählenswert halte und die oft gesellschaftskritisch sind.
Nach welchen Kriterien wählen Sie Drehbücher aus?
Koschitz: Es sind meistens drei Schritte: die Qualität des Buches und die Frage, ob ich die Geschichte erzählenswert finde; wer Regie führt und wer die Mitwirkenden sind; und außerdem suche ich nach einer gewissen Abwechslung in den Projekten und in den Rollen.
Wann ist für Sie ein Drehbuch gut?
Koschitz: Das ist eine gute Frage, nur gar nicht leicht zu beantworten. Ein gutes Buch wird mich nicht langweilen. Es sollte Dialoge haben, die nicht beliebig sind sowie eine spannende Dramaturgie. Ich könnte vieles aufzählen. Wenn ich es aber kurzfasse: Ein gutes Buch sollte für mich was Eigenwilliges haben, mich neugierig machen, und im besten Fall sollte es mich persönlich ein Stück weiterbringen.
Julia Koschitz: "Ich lebe wahrscheinlich in einer Mittelschichtsblase."
Sind Sie eigentlich persönlich schon einmal mit dem Thema Armut konfrontiert worden?
Koschitz: Nein, nicht wirklich. Ich hatte das Glück einer sorgenfreien Jugend und lebe wahrscheinlich in einer Mittelschichtsblase. Nur durch Geschichten meines Vaters, der im Krieg geboren und in finanziell bescheidenen Umständen groß geworden ist, wurde ich mit diesem Thema oft konfrontiert. Darum ist mir auch das Narrativ, nie mehr in eine solche Situation zurückfallen zu wollen, sehr bekannt.
Wo ist Ihnen das Thema Armut in Deutschland am deutlichsten aufgefallen?
Koschitz: Ich bin in Frankfurt aufgewachsen und da führte mich mein Schulweg durch den Taunuspark. Dort trafen sich damals unzählige Drogenabhängige. Insofern sah ich da früh das grausame Aufeinandertreffen von Finanzwelt und der bitteren, ausweglos scheinenden Situation von Drogenabhängigen, die eben teilweise auch obdachlos waren.
Mit jährlich 25 Milliarden Euro könnten wir die Armut in Deutschland komplett abschaffen, sagt der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Warum, glauben Sie, passiert da auch politisch so wenig? Liegt es daran, dass man damit keine Wahlen gewinnen kann?
Koschitz: Ja, so wie man auch den Hunger in der Welt mit eigentlich lächerlich wenig Geld verhindern könnte. Das ist tragisch und schwer auszuhalten. Auch wenn wir zum großen Teil in Demokratien leben, denke ich, dass die Welt vornehmlich von den Menschen gestaltet wird, die das meiste Geld haben und es behalten wollen. Wir brauchen mehr Empathie.
Zur Person: Julia Koschitz, 1974 geboren, ist eine österreichische Schauspielerin. Bekannt wurde sie unter anderem mit der Serie „München 7“. Das Sozialdrama „Auf dünnem Eis“ ist an diesem Montag um 20.15 Uhr imZDF zu sehen.