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Interview: Humedica-Helfer nach Erdbeben: "Die Haitianer sind traumatisiert"

Interview

Humedica-Helfer nach Erdbeben: "Die Haitianer sind traumatisiert"

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    Vielen Menschen blieb nach der Naturkatastrophe nichts mehr. Wie diesem Mann, der fassungslos vor den Überresten seines Hauses stand.
    Vielen Menschen blieb nach der Naturkatastrophe nichts mehr. Wie diesem Mann, der fassungslos vor den Überresten seines Hauses stand. Foto: Tcharly Coutin, dpa/XinHua

    Vor mehr als drei Wochen bebte im Südwesten Haitis mit der Stärke 7,2 die Erde – elf Jahre nach jenem verheerenden Erdbeben der Stärke 7,0, bei dem über 2200 Menschen starben. Die aktuelle Katastrophe trifft ein geschundenes Land. Herr Lipohar, welches Bild bot sich Ihnen vor Ort?

    Tihomir Lipohar: Das Erdbeben hat zwar mit dem Südwesten ein nicht so dicht besiedeltes Gebiet erwischt, aber für die Betroffenen macht das keinen Unterschied. Rund 2200 Menschen sind gestorben, Hunderttausende sind obdachlos. Die Infrastruktur ist zusammengebrochen, es gibt in manchen Gebieten kein Wasser und keinen Strom. Jede Familie hat jemanden verloren, viele leiden.

    Sie waren zwölf Tage mit einem Team der Kaufbeurer Hilfsorganisation humedica in Haiti, um zu helfen. Wie sah Ihre Arbeit aus?

    Lipohar: Wir haben uns einen Überblick über die Lage verschafft und erste Ärzteteams ausgesandt. Diese haben im Krankenhaus ausgeholfen und sind in entlegene Dörfer gefahren, um Verletzte medizinisch zu versorgen. In einem nächsten Schritt werden wir die Gesundheitszentren wieder aufbauen und die Menschen mit Baumaterialien versorgen, damit sie baldmöglichst wieder ein Dach über dem Kopf haben.

    Ein Mann sitzt vor einem zerstörten Haus in Haiti.
    Ein Mann sitzt vor einem zerstörten Haus in Haiti. Foto: David de la Paz, dpa

    Wie haben die Menschen auf die Hilfsangebote reagiert?

    Lipohar: Sehr dankbar. Auch kleine Hilfen sind für sie ein Zeichen, dass sie nicht alleine sind. Dennoch steckt das Land in einer Krise. Die Sicherheitslage ist schwierig. Wir mussten zur betroffenen Region fliegen – der Landweg ist zu gefährlich. Dort sind Banden unterwegs und plündern Hilfskonvois.

    Wer steckt hinter diesen Banden?

    Lipohar: Es ist ja nicht nur das Erdbeben, das Haiti beutelt. Erst im Juli wurde Präsident Jovenel Moïse ermordet, es herrscht politisches Chaos und große Armut. Dazu fehlt dem Land Bildung. Eine Statistik von 2010 besagt, dass rund die Hälfte der haitianischen Kinder niemals in ihrem Leben eine Schulbildung erlangen. Damit fängt alles an: Da ist eine junge Generation ohne Bildung und Chancen, die sich nach anderen Möglichkeiten umschaut. Und nach den vielen Krisen haben die meisten Einwohner kaum noch Hoffnung auf ein besseres Morgen, viele wollen auswandern.

    Wie das Erdbeben vom 12. Januar 2010 Haiti getroffen hat

    Der Karibikstaat, der sich die Insel Hispaniola mit der Dominikanischen Republik teilt, war schon vor dem Erdbeben das Armenhaus der westlichen Hemisphäre. Er taumelt seit Jahrzehnten von einer Katastrophe in die nächste – und bleibt ein ständiger Notfall.

    80 Prozent der gut zehn Millionen Einwohner leben in Armut. Fast zwei Millionen sind chronisch unterernährt. Die Hälfte der Bevölkerung kann weder lesen noch schreiben.

    Dazu kommt eine instabile politische Lage, weshalb zuletzt Millionen Haitianer ausgewandert sind.

    Am 12. Januar 2010 wurde Haiti vom schwersten Erdbeben seit mehr als 200 Jahren erschüttert. Mit einer Stärke von 7,2 auf der Richterskala war das Beben eine der größten Naturkatastrophen aller Zeiten.

    Mehr als drei Millionen Menschen waren betroffen. Laut UN starben mindestens 220.000 Menschen. 310.000 Menschen wurden verletzt, fast zwei Millionen waren obdachlos.

    Etwa 45 Prozent der Gebäude in Port-au-Prince wurden zerstört. Der Schaden wurde damals mit etwa zehn Milliarden Dollar beziffert.

    Viele Haitianerinnen und Haitianer werden sich noch an das Erdbeben von 2010 erinnern können. Welche Spuren hat das bei ihnen hinterlassen?

    Lipohar: Die Haitianer sind traumatisiert. Ein lokaler Partner berichtete mir von einer Frau, die bei dem damaligen Erdbeben etwa 20 Jahre alt war. Nach der Katastrophe zog sie weg aus Port-au-Prince, weil sie sich nicht mehr wohlfühlte. Nun ist sie Mutter von kleinen Kindern. Als vor etwas mehr als drei Wochen ihr Haus zu wackeln begann, stürzte sie in ihrer Panik einfach nach draußen – ohne ihre Kinder. Sie hatte sie in ihrer Angst einfach vergessen. Erst als Nachbarn sie angesprochen haben, ist sie zurück. Viele, die das große Beben erlebt haben, tragen diesen Schrecken in sich.

    Ein junger Mann sucht in den Trümmern eines eingestürzten Gebäudes.
    Ein junger Mann sucht in den Trümmern eines eingestürzten Gebäudes. Foto: Carol Guzy, dpa

    Erdbeben kann man nicht gut voraussagen, aber war das Land durch seine Erfahrungen von 2010 dennoch vorbereitet?

    Lipohar: Die Menschen haben aus den schlimmen Erfahrungen gelernt. Der Zivil- und Katastrophenschutz von Haiti funktionierte diesmal besser und konnte den Menschen schneller helfen. Es ist jetzt, mehr als drei Wochen danach, schon viel geschafft. 2010 traf das Erdbeben praktisch Herz und Kopf des Landes. Diesmal sind die meisten Strukturen noch intakt. Ich schätze, dass es rund ein Jahr dauern wird, bis alles wieder aufgebaut ist.

    Was braucht es in Zukunft, um bei Naturkatastrophen wie dieser noch effizienter helfen und die Menschen vor Ort unterstützen zu können?

    Lipohar: Die beste Hilfe ist, auf die Bauweise zu achten. Viele der eingestürzten Häuser waren billig gebaut, aber um Erdbeben zu trotzen, benötigen sie ein stabiles Grundgerüst. Zudem müssen wir den Zivilschutz weiter stärken und besser ausrüsten. Die ersten 24 Stunden danach sind entscheidend. Ortskräfte sind am schnellsten da und können Menschenleben retten.

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