Herr Tschermak, wie würden Sie den Kurs der Bild unter Julian Reichelt beschreiben, den die Axel Springer SE von seinen Aufgaben als Chefredakteur entbunden hat, weil er „Privates und Berufliches nicht klar getrennt und dem Vorstand darüber die Unwahrheit gesagt“ hat?
Moritz Tschermak: Julian Reichelt hat als stark politischer Mensch auchBild wieder politisiert. Die Bedeutung der Klatsch- und Promigeschichten hat stark abgenommen, die politische Berichterstattung wurde unter ihm zum Kern des Blatts. Und das mit klaren Positionierungen, beispielsweise: weniger Migration nach Deutschland, dafür mehr Abschiebungen in die Herkunftsländer. Unter Reichelt wurde Bildwieder krawalliger, auch populistischer, die Frequenz der gefahrenen Kampagnen hat aus meiner Sicht zugenommen.
Und wohin wird die Bild mit ihrem neuen Chef Johannes Boie, der als Chefredakteur vom Springer-Blatt Welt am Sonntag kommt, steuern?
Tschermak: Der Austausch auf dem Chefredakteursposten hat bei Bild immer größere Auswirkungen, weil die inhaltliche Ausrichtung sich bei Bild noch mal stärker als bei anderen Redaktionen nach dem jeweiligen Chef richtet. Nun ist seit einiger Zeit allerdings Alexandra Würzbach mit in der Chefredaktion und bleibt dort auch. Genauso Claus Strunz. Das spräche für eine gewisse Kontinuität. Johannes Boie, der zuvor Chefredakteur der Welt am Sonntag war, hat dort auch Editorials geschrieben, die kräftig zugelangt haben. Ob er beim Krawall und beim Populismus an Reichelt rankommt, bezweifle ich. Das heißt aber nicht im Umkehrschluss, dass Bild nun lammfromm wird. Auch nach Reichelts Abgang sind noch einige Redakteure in gehobenen Positionen dort, die gewissermaßen die rechten Hände ihres ehemaligen Chefs waren und dessen Linie auch jetzt noch weiterführen können.
Der stellvertretende Bild-Chefredakteur Paul Ronzheimer oder „Meinungs“-Chef Filipp Piatov haben sich in ihren ersten Reaktionen bei Reichelt bedankt – über seinen fragwürdigen Umgang mit jungen Kolleginnen sagten sie nichts.
Tschermak: Die Reaktionen klingen für mich stark nach der Wagenburgmentalität, die seit jeher bei Bildherrscht und die sich vor allem unter Julian Reichelt noch einmal verstärkt hat. In dieser Hinsicht scheint sich durch Reichelts Abgang nichts Grundsätzliches geändert zu haben.
Was sagen Sie dazu, dass Daniel Drepper und sein Team von „Ippen Investigativ“ die eigenen Recherchen zu Reichelt und der Bild, die in Ippen-Medien bislang nicht erscheinen sollten, in Teilen bei Spiegel veröffentlicht hat?
Tschermak: Vor der Arbeit des Teams um Daniel Drepper, Marcus Engert, Katrin Langhans und in diesem Fall vor allem Juliane Löffler habe ich riesigen Respekt. Die Widerstände, gegen die sie angegangen sind, sowohl bei Springer als auch im eigenen Verlag, sind nicht zu unterschätzen. Den Brief, den sie an Verleger Dirk Ippen geschrieben haben, finde ich großartig und mutig. Für mich klang er nach: Sollen sie uns halt feuern – aber diesen Eingriff lassen wir uns nicht bieten! Journalistischer geht es kaum. Dass die Recherchen dann beim Spiegel veröffentlicht wurden, ist ein ungewöhnlicher Vorgang, aber nur folgerichtig. Und ich finde es vom Spiegel toll, dass die Recherche dort veröffentlicht werden konnte.
Zur Person: Moritz Tschermak, Jahrgang 1987, gründete während seines Journalistikstudiums zusammen mit Mats Schönauer das Regenbogenpresse-Watchblog Topfvollgold. Seit 2016 leitet er das BILDblog. Das ist ein preisgekröntes und unabhängiges medienkritisches Internetangebot, das sich - nicht nur - mit derBildbefasst und ein wichtiges Korrektiv für das Boulevardmedium darstellt. Er schrieb für das Magazin der Süddeutschen Zeitung, das ZEITmagazin und den Spiegel. Im Mai erschien das Buch „Ohne Rücksicht auf Verluste. Wie Bild mit Angst und Hass die Gesellschaft spaltet“ (Kiepenheuer & Witsch, 336 Seiten, 18 Euro), das er mit Schönauer verfasste.