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Corona: In der reichen Schweiz fehlt es in der Corona-Krise plötzlich am Nötigsten

Corona

In der reichen Schweiz fehlt es in der Corona-Krise plötzlich am Nötigsten

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    Auf den Schweizer Intensivstationen – hier in einer Klinik in Sion – mangelt es an Personal.
    Auf den Schweizer Intensivstationen – hier in einer Klinik in Sion – mangelt es an Personal. Foto: Jean-Christophe Bott, Keystone, dpa

    Aus dem Pralinengeschäft weht süßer Duft in die Bahnhofspassage. Vor dem Laden wartet ein halbes Dutzend Kunden, zwei tragen keine Maske. Auch vor einer Fast-Food-Kette herrscht Andrang. Daneben, in einem italienischen Café, flitzen Kellnerinnen zwischen gut besetzten Tischen hin und her. Passanten und Gäste kommen sich überall nahe. Gefährlich nahe.

    Eigentlich müssten alle diese Menschen in Bern nach den neuesten Anti-Corona-Bestimmungen der Schweizer Regierung einen Mund- und Nasenschutz überziehen. Doch viele Münder und Nasen sind frei. Dabei hat sich die Eidgenossenschaft binnen weniger Wochen zu einem Brennpunkt der Corona-Epidemie entwickelt. Seit Ende Oktober meldete das Bundesamt für Gesundheit an mehreren Tagen jeweils rund 10.000 bestätigte Covid-19-Neuinfektionen. Zwar ist die Zahl zurückgegangen, zuletzt auf rund 5000. Für ein Land mit 8,6 Millionen Einwohnern markiert das noch immer einen alarmierenden Wert. Zum Vergleich: In Deutschland leben fast zehnmal mehr Menschen. Doch kommt die Bundesrepublik auf Fallzahlen, die, sehr grob gerechnet, nur drei- bis viermal so hoch ausfallen wie in der Schweiz.

    Die Corona-Test-Kapazitäten in der Schweiz gehen zur Neige

    Test-Kapazitäten werden knapp, die Intensivstationen sind voll, die Zahl der erfassten Covid-19-Todesfälle stieg auf 3464 – abermals ein hoher Wert im internationalen Vergleich. Gesundheitsminister Alain Berset musste gestehen: "Die Lage bleibt ernst." Es ist derselbe Berset, der vor gut einem halben Jahr, als die erste Covid-19-Welle abebbte, den Schweizern versicherte: "Wir können Corona." Im Juni registrierte die Regierung nur noch vereinzelte Ansteckungen. Das Kabinett hob die scharfen Restriktionen des ersten Lockdowns schrittweise auf. Und die Schweizer fassten wieder Mut, die Wirtschaft wieder Tritt.

    Doch nun rollt die zweite Corona-Welle über das Alpenland. Und die Menschen fragen sich: Wer trägt die Verantwortung für die eskalierende Krise? Wie kann die reiche durchorganisierte Schweiz mit einem international herausragenden Gesundheitssystem so scheitern?

    Die Sorglosigkeit in der Schweiz wirkte ansteckend

    Zwischen Bodensee und Genfersee grassierte lange eine nahezu ansteckende Sorglosigkeit. Die vielen Partys und Feste, draußen und drinnen, sowie feuchtfröhliche Nächte in Clubs, Bars und Discos beschleunigten die Corona-Ausbreitung. Bei einem Jodelfest im Kanton Schwyz zirkulierte das Virus, viele Besucher infizierten sich. Bei einer Hochzeit mit 200 Gästen in der Appenzeller Gemeinde Schwellbrunn feierten Gäste, die Covid-19-Symptome aufwiesen. Als natürlicher Faktor kommen sinkende Temperaturen ins Spiel: Der Epidemiologe Matthias Egger bestätigt unserer Redaktion: "Mit dem kalten Wetter, bei dem sich die Leute wieder vor allem in Innenräumen aufhalten, haben wir eine exponentielle Ausbreitung ähnlich wie Anfang März."

    Am Bodensee saßen die Menschen beisammen und feierten.
    Am Bodensee saßen die Menschen beisammen und feierten. Foto: Symbolbild: Felix Kästle, dpa

    Vor allem aber zeigen Helvetiens Politiker nicht immer den nötigen Biss, oft zögern sie. Viele EU-Staaten reagierten viel drastischer als die Schweiz. Der Epidemiologe Christian Althaus beklagt "das politische Totalversagen der Schweiz". Keine Verantwortlichkeiten seien auf irgendeiner Stufe zu sehen, schrieb Althaus, der in der nationalen Schweizer "COVID-19 Science Task Force" sitzt.

    Im Juni gab der Bundesrat die "Hauptverantwortung" für den Kampf gegen Covid-19 zurück an die 26 Kantone. Seither ordnet die Regierung nur noch national geltende Mindestvorgaben an. Jeder Kanton ist befugt, darüber hinauszugehen. Jedoch kann von einer abgestimmten Strategie nicht die Rede sein. So sind im Kanton Genf die Friseursalons geschlossen. Im benachbarten Waadt nicht. Die Folge: Die Bewohner von Genf fahren für einen Haarschnitt in die Waadt.

    Friseure in einem Kanton dürfen öffnen, im anderen nicht.
    Friseure in einem Kanton dürfen öffnen, im anderen nicht. Foto: Britta Pedersen, dpa

    Anfang September, als Befürchtungen über eine zweite Welle die Schweiz erfassten, entschied die Regierung: "Das Verbot für Großveranstaltungen mit über 1000 Personen wird unter strengen Auflagen per 1. Oktober 2020 aufgehoben." Wie stark die 1000-Plus-Treffen die Corona-Krise eskalieren ließen, ist unklar. In jedem Fall breitete sich im Oktober das Corona-Virus rasant aus. Am 28. Oktober ruderte der Bundesrat wieder zurück.

    Die Armee hilft im Gesundheitswesen beim Kampf gegen Corona

    Beim Personal wird es ebenso eng wie bei den Intensivbetten. "Die Realität wird uns zeigen, dass vermutlich nicht die Ausstattung fehlen wird, sondern vielmehr das Pflegepersonal, das am Bett dieser Patienten stehen muss", erläutert Stefan Hofer, Sprecher der Schweizer Armee. Fachleute der Streitkräfte berechnen derzeit die Kapazitäten in den Krankenhäusern; angesichts des Notstandes musste die Armee im Gesundheitswesen einspringen. Doch selbst die Mobilisierung der bis zu 2500 Soldaten bringt keine anhaltende Entspannung – denn die Uniformierten können kaum als Intensivpfleger eingesetzt werden.

    Lesen Sie dazu auch: Österreich geht wieder in den Corona-Lockdown

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