Von Jasmin Fischer Auf Jersey blühen die Narzissen, gelbe Farbtupfer zwischen Steinhäusern und entlang schmaler Trampelpfade. Idyllischere Orte gibt es in Europa wenige - vielleicht fällt es deshalb so schwer zu begreifen, warum auf der Insel der schlimmste Kindermissbrauchsskandal der britischen Geschichte reifen konnte.
Die Abgeschiedenheit, mit der Jersey wirbt, ist den Heimkindern zum Verhängnis geworden. Die wenigen, denen die Flucht aus dem Haut de la Garenne gelungen ist, sind auf dem kleinen Terrain nicht weit gekommen. Für einige mag das "Horrorhaus" gar Endstation gewesen sein. Seit mehr als zwei Wochen suchen Ermittler nach Leichen von Kindern, die hier zu Tode gequält worden sein sollen oder sich selber umgebracht haben.
Am Wochenende fand die Polizei Blutspuren in einem der Kellerräume. Der soll nach Zeugenaussagen als Strafkammer benutzt worden sein. In dem Wasserbecken wurden offenbar Kinder in kaltes Wasser getaucht.
"Die Dinge, die hier passiert sind, sind unbeschreiblich - es sind die furchtbarsten, sadistischsten und bösartigsten Taten, die man sich denken kann", sagt ein Opfer, das nur als "Pamela" identifiziert werden möchte. In den Siebzigern musste sie zwei Jahre in dem Heim für Waisen, vernachlässigte und schwer erziehbare Kinder verbringen. Sie beschreibt, wie Jugendliche in ihren Betten kauerten, während betrunkene Angestellte in die Schlafsäle stolperten und sich Kinder zum Vergewaltigen aussuchten.
20 Jahre und länger hat es die Inselgemeinschaft geschafft, die Vorfälle zu verschweigen. "Wir haben es hier mit einer ganzen Kultur der Vertuschung zu tun", erklärt Stuart Syvres. Er war im September 2007 seines Amtes als Sozialminister enthoben worden, nachdem er im Parlament Kritik an der staatlichen Unterbringung von Kindern auf Jersey geübt hatte.
Für das Steuerparadies und Urlaubsziel Jersey ist die Lage denkbar schlecht. Hochrangige Politiker hatten direkte Verbindungen zum Heim, wie der jetzige Bildungsminister Mario Lundy, der dort gearbeitet hat und jeden Kommentar verweigert. Auf eine Liste mit 40 Tätern hat die Polizei auch "prominente Persönlichkeiten" der Insel gesetzt; Mitwisser muss es viel mehr gegeben haben.
Der Stimmung in der Hauptstadt St. Helier schwankt derweil zwischen Verleugnung und Katastrophen-Pragmatismus. Frank Walker, oberster Minister, zeigte sich in einer Pressekonferenz empfindlich betroffen - weil die ganze "Affäre" dem Ruf der Insel schaden könnte, nicht etwa, weil viele Kinder hier Unaussprechliches erlitten haben. Und ganz so, als würden jene Rentner lügen, die noch heute bei der Erinnerung an das Heim weinend vor der Kamera zusammenbrechen, predigte der Insel-Geistliche Robert Key hier letztens: "Vor übermäßiger Neugier und falschem Sensationsmangel, großer Gott, schütze uns."
Viele Durchschnittsmenschen auf Jersey interessiert der Fall jedoch kaum. Gastwirt Emile gehört auch zu denen, die andere Sorgen haben: Die Steuern sollen steigen, die Tempolimits sinken. Was er vom Heim hört, hält er für Lügen und Übertreibungen: "Die Insel geht vor die Hunde", jammert er.