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Hochwasser: Das Ahrtal nach der Flutkatastrophe: „Es wird eine große Narbe bleiben“

Hochwasser

Das Ahrtal nach der Flutkatastrophe: „Es wird eine große Narbe bleiben“

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    Bis heute können es viele der etwas mehr als tausend Einwohnerinnen und Einwohner des rheinland-pfälzischen Ahrbrück nicht fassen, mit welcher Wucht die Jahrhundertflut ihren Ort Mitte Juli getroffen hat.
    Bis heute können es viele der etwas mehr als tausend Einwohnerinnen und Einwohner des rheinland-pfälzischen Ahrbrück nicht fassen, mit welcher Wucht die Jahrhundertflut ihren Ort Mitte Juli getroffen hat. Foto: Philipp von Ditfurth, dpa (Archivfoto)

    Genau zwölf Wochen nach der Jahrhundertflut in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen ist es im Rest des Landes doch erstaunlich ruhig geworden. Die Katastrophe ist kein Tagesgespräch mehr. Immer wieder bahnen sich einzelne Nachrichten ihren Weg in die breite Öffentlichkeit, aber es ist längst kein Nachrichtenstrom mehr, dem man kaum entkommen kann. So, wie damals auch etwa die Menschen an der Ahr dem Starkregen, dem Hochwasser, dem Schlamm nicht entkommen konnten.

    Anderes wie die verheerenden Brände im Mittelmeerraum beherrschte die Medien, dann drängten der Bundestagswahlkampf, der Wahlsonntag und seine Folgen in den Vordergrund. Klar, das Lachen des Unionskanzlerkandidaten Armin Laschet in Erftstadt hallt nach, die oft gestellte Frage: Haben ihm diese wenigen Sekunden Fröhlichkeit in Gegenwart des vor Journalistinnen und Journalisten sowie Flutopfern sprechenden Bundespräsidenten die Kanzlerschaft gekostet? Und ja: Es gibt sie, die Meldungen und Berichte. Zum Beispiel die der Deutschen Presse-Agentur:

    • 4. Oktober: Neues Ahrtalradio im Flutgebiet darf länger senden
    • 3. Oktober: Weinlese im Katastrophengebiet – Ahrwinzer ernten besonderen Jahrgang
    • 30. September: Ermittlungen wegen möglichen Missbrauchs von Ahr-Nottankstellen

    Doch während die Menschen in den Flutgebieten auch zwölf Wochen nach der Katastrophe bei Weitem nicht zur Normalität zurückgekehrt sind, hat sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf andere Themen gerichtet. Wie aus einer anderen Zeit mutet das an, was am 14. und 15. Juli geschah, als ein so beschauliches Flüsschen wie die Ahr zu einem reißenden, alles niederwalzenden Strom wurde.

    Nach wie vor geht es im Westen Deutschlands um einen „Aufbruch in eine noch ungewisse Zeit“

    Weit mehr als hundert Menschen – 133 allein im Ahrtal – kamen ums Leben, Zehntausende standen plötzlich vor den Trümmern ihrer Existenz. Und nun? Geht es nach wie vor im Westen Deutschlands um einen „Aufbruch in eine noch ungewisse Zeit“, wie die Rhein-Zeitung kürzlich kommentierte. „Das Ahrtal wird nicht durch Worte aufgebaut, sondern durch Taten.“ Und es werde eine entscheidende Frage sein, wie schnell die Behörden den Wiederaufbau tatsächlich vorantreiben könnten.

    Hausarzt und „Seelsorger“: Dr. Klaus Korte aus Ahrbrück.
    Hausarzt und „Seelsorger“: Dr. Klaus Korte aus Ahrbrück. Foto: Hans-Jürgen Vollrath

    Und mit Wiederaufbau sind Häuser genauso gemeint wie die Menschen selbst. Das wird deutlich, wenn man mit Klaus Korte spricht, Hausarzt aus Ahrbrück, einem der Epizentren der Flutkatastrophe im Ahrtal in Rheinland-Pfalz. Er lässt seine Praxis, einige hundert Meter entfernt von der Ahr, gerade sanieren. Sein Praxisteam und er sind in einem Nachbargebäude untergekommen. Er erinnert sich gut an den Abend des 14. Juli. Als er, mitten auf der Straße, umflossen von Wasser, einen Mann sah, der sich an einem Straßenschild festhielt. „Unmöglich, den zu erreichen“, erzählt er. Auf der gegenüberliegenden Seite sei ein anderer Mann auf einem Wohnwagendach gewesen. „Papa, wir müssen dem helfen!“, sagte da sein erwachsener Sohn zu ihm. Korte antwortete: „Wir können da jetzt nicht hin. Sonst werden wir beide weggerissen von den Fluten.“

    Andere versuchten damals, die vom Wasser Eingeschlossenen mit Seilen zu holen. „Aber das war nicht mehr möglich. Feuerwehr und Polizei waren nicht erreichbar. Das Handynetz war zusammengebrochen. Das war zwischen 19 und 20 Uhr. Es wurde immer dunkler, und das Wasser stieg immer höher“, erzählt Korte. Später sei er schlafen gegangen und habe sich gedacht: „Morgen wird alles wieder gut sein.“ Doch gar nichts war gut.

    „Dann haben sie gebetet, dass sie bald in den Himmel kommen", erzählt der Hausarzt

    Korte sagt: „Ich habe in 30 Jahren als Arzt schon viele schlimme Sachen gesehen. Wir sind als Ärzte Extremsituationen gewöhnt. Wir Ärzte wissen, wie das ist, wenn jemand schreiend zusammenbricht oder wenn jemand vor Trauer fast den Verstand verliert. Das erleben wir bestimmt nur alle paar Monate. Aber jetzt erlebe ich das hier zehnmal am Tag. Das ist doch hier keine normale Sprechstunde mehr.“

    Seine Kolleginnen und Kollegen hätten von Müttern gehört, die mit ihren Kindern auf Dachböden saßen, um sich vor den Fluten in Sicherheit zu bringen. Die die Dachverkleidung aufrissen. Dass die Öffnung zwischen den Dachlatten so schmal war, dass Erwachsene nicht durchpassten. Dass sie ihre Kinder herausheben wollten, die Kinder das aber nicht wollten. „Dann haben sie gebetet, dass sie bald in den Himmel kommen. Solche Geschichten gab es überall an der Ahr“, sagt der Arzt.

    Und er erzählt weiter. Von Menschen, deren Häuser keinen Dachboden hatten. Die sich ins Obergeschoss flüchteten. Die ihre Ehepartner manchmal stundenlang in den Armen hielten, damit sie nicht ins Wasser rutschen, das ihnen bereits bis zur Hüfte stand. Und die irgendwann ihre Liebsten nicht mehr halten konnten. Die sie am nächsten Morgen nur noch tot auffanden.

    Sein Praxis-Kollege verlor seine Frau und seine vierjährige Tochter. Sein Haus, seinen Besitz. Korte bittet auf der Homepage seiner Praxis um Spenden für ihn. „Mit nichts als seinen nassen Kleidern konnte er und sein vierjähriger Sohn nach vielen Stunden aus den Fluten gerettet werden“, schreibt er.

    Sein Bruder, ein OP-Pfleger, habe ihn einmal gefragt, was das alles mit ihm mache, sagt Korte. „Was macht ihr denn“, habe er ihn gefragt, „wenn ihr einen Massenanfall von Verletzten habt? Sagt ihr dann auch, dass ihr erst mal was für euren Kopf und eure Seele tun müsst? Wir können euch nicht operieren? Da muss man als Arzt durch. Das ist dann so.“

    Ärzte im Ahrtal sind verstärkt als Seelsorger gefragt

    Nach zehn Tagen nahm sich Klaus Korte das erste Mal frei. Er traf sich mit der Vorsitzenden des Hausärzteverbandes Rheinland-Pfalz und ihrer Stellvertreterin. Er redete, sie hörten zu. Tags darauf, erzählt Korte, habe er gedacht, „mich würde ein D-Zug überfahren“. So niedergeschlagen und fertig sei er gewesen. Wenn Patientinnen und Patienten von ihm zurückkehren, um nach ihren zerstörten Häusern zu sehen, kommen sie häufig zu ihm. „Die wollen irgendwas Vertrautes wiedersehen. Wir Ärzte haben für viele eine ganz wichtige Funktion: Vertrautheit, ein gewohntes Umfeld. Wir sind Seelsorger“, sagt Korte. Viele hätten seelische Traumata.

    Dreimal in der Woche sind nachmittags Psychotherapeuten in seiner Praxis. In der Verbandsgemeinde Altenahr, zu der Ahrbrück gehört, ist eine Handvoll von ihnen in fast allen Orten unterwegs. Sie sollen die Betroffenen „rausfischen“, so sagt es der Arzt wirklich, die eine Psychotherapie brauchen. „Reden wollen alle. Aber einige brauchen mehr.“ Es gebe ein Netzwerk von etwas über 200 Psychotherapeuten und Psychologen überwiegend aus dem Raum Köln-Bonn, die Hilfsbedürftige sofort in Therapie nehmen. „Eines ist klar für mich: Es wird eine große Narbe bleiben“, sagt Korte schließlich.

    Zwölf Wochen nach der Katastrophe ist man auch im nahen Bad Neuenahr-Ahrweiler noch weit von Normalität entfernt. Doch es gibt sie, die Zeichen des Aufbruchs. Und dazu gehört nicht nur das aufgebaute Gerüst für die „Pop-up-Mall“ für Einzelhandel und Gastronomie auf dem Mosesparkplatz, die voraussichtlich Anfang November öffnen soll. Katharina Jamitzky ist die Inhaberin der 1903 eröffneten Adler Apotheke – ihr Verkaufscontainer war der erste, der nach der Flut vor der Rosenkranzkirche stand. Und ihrer Initiative ist es ebenfalls zu verdanken, dass ein kleines Nahversorgungszentrum entstanden ist.

    Nicht verzagen, weitermachen: Die Menschen im Ahrtal haben da so einige Ideen

    Hier werden Obst und Gemüse verkauft, die Metzgerei Albrecht ist hier wieder für ihre Kunden da, ebenso die Bäckerei Simon. Es ist ein Angebot, das vor allem die ungezählten Handwerkerinnen und Handwerker zu schätzen wissen, die in der Stadt jede Menge zu tun haben und deren Geräusche die Geräuschkulisse der Stadt prägen. Während sich die Geschäftszeilen in den Erdgeschossen in Rohbauten zurückverwandelt haben, wird obendrüber gewohnt. In einigen Schaufenstern sind frohe Botschaften plakatiert: Tchibo will weitermachen, Fisch-Meyer ebenfalls, und auch das Kaufhaus Moses kommt nach der Sanierung zurück.

    Nicht verzagen, weitermachen: Die Menschen im Ahrtal haben da so einige Ideen. Wie die, dass Einheimische wie Besucherinnen und Besucher an allen Wochenenden im Oktober auf den unzerstörten „Rotweinwanderweg“ gelockt werden sollen. Das Motto: „Wandern für den Wiederaufbau“. Die Winzer müssen Umsatz machen. Touristinnen und Touristen können den Wiederaufbau unter anderem mit dem Kauf eines Solidaritätsarmbändchens für fünf Euro unterstützen.

    Es wird geplant und gebaut im Ahrtal – an Straßen, Brücken, Radwegen. Am Stromnetz. Man sieht es, man liest in der Zeitung davon, dass es vorangeht. Dennoch dauerte es lange, für viele zu lange, bis sie erfuhren, wie und wo genau zerstörte Häuser wieder aufgebaut werden können. Seit wenigen Tagen erst steht fest: Die Hochwasserzonen im Ahrtal werden nach Plänen des Landes Rheinland-Pfalz mehr als doppelt so groß wie bisher. Wo etwa in der Gemeinde Schuld, die massiv von den Fluten betroffen und tagelang in den Fernsehnachrichten zu sehen war, vor der Katastrophe bloß ein schmaler Streifen entlang des Flusses als Überschwemmungsgebiet ausgewiesen war, umschließt das neue Gebiet jetzt ganze Flusskurven mit Straßen und Häuserzügen.

    34 Betroffene dürfen ihre Häuser nicht mehr an Ort und Stelle aufbauen

    Innerhalb einer neuen Zone ist Bauen künftig nur mit Ausnahmegenehmigung möglich. Bestehende, auch teilzerstörte Häuser haben Bestandsschutz. Gebäude, welche die Jahrhundertflut mit sich riss oder die anschließend abgerissen werden mussten, dürfen unter Auflagen neu errichtet werden. In jener Zone gibt es eine weitere, kleinere, für die gilt: besonderes Gefährdungsgebiet, Bauen verboten.

    Damit könnten die „allermeisten Hausbesitzer und Hausbesitzerinnen“ an Ort und Stelle sanieren, sagte die rheinland-pfälzische SPD-Ministerpräsidentin Malu Dreyer bei einer „Zukunftskonferenz“. Lediglich 34 Betroffene dürften ihre Häuser nicht mehr aufbauen, hieß es. Man habe bereits das Gespräch mit ihnen gesucht, um für sie einen neuen Bauplatz oder „andere individuelle Lösungen“ zu finden.

    Joachim Gerke, Abteilungsleiter Wasserwirtschaft, Abfallwirtschaft und Bodenschutz der Struktur- und Genehmigungsdirektion Nord, die für die Hochwasservorsorge in Rheinland-Pfalz zuständig ist, sagte: „Den Hochwasserschutz müssen die betroffenen Kommunen als Solidargemeinschaft angehen.“ Und er sagte: Man müsse die gesamte Fläche betrachten, also für das gesamte Tal vom Fluss her denken.

    Zumindest an den Fluss, die Ahr, denken die Menschen hier jeden Tag. Und so wird es noch sehr lange bleiben.

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