Ihre Augen strahlen. Sie setzt sich in ihrem Bett im Altenheim auf. Dünn ist sie. Gebrechlich. Aber was sie erlebt hat, war für sie so berührend, hat sie so gefreut, dass für Momente die schwere Krankheit und das Alter in den Hintergrund treten. Margarete Kerzinger hat den Brombachsee wieder vor Augen. Den See in Franken, an dem sie mit ihrem verstorbenen Mann so oft geradelt ist. Den See, an dem sie im vergangenen Jahr noch mit Freundinnen war. Den See, den sie in ihrem Leben noch einmal sehen will.
Ihr Wunsch wird erfüllt. Ihre Nichte Karin Kerzinger engagiert den Wünschewagen. Denn Margarete Kerzinger hat Krebs. Die 86-Jährige, die im fränkischen Aurach in einer Pflegeeinrichtung lebt, kann nur liegend transportiert werden. Genau für solche Fälle gibt es seit gut einem Jahr den Wünschewagen. Träger ist der Arbeiter-Samariter-Bund, kurz ASB. Eine der rund 60 Ehrenamtlichen, die Sterbenskranke dorthin fahren, wo sie noch einmal sein wollen, ist Natascha Schuschei. Wer die 49-jährige Augsburgerin trifft, lernt eine offene, empathische Frau kennen, die viel und gerne lacht. Humor hilft – gerade auch in ernsten Situationen. Schuschei sagt, sie kann sich nichts Schöneres vorstellen als Menschen, die am Ende ihres Lebens stehen, einen Herzenswunsch zu erfüllen: „Ich empfinde es als eine Ehre, diesen Menschen noch einmal ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.“
Für ihren Einsatz steht die Mutter von drei Buben, die in Teilzeit in einer Anwaltskanzlei arbeitet, schon mal um drei Uhr früh auf. Schließlich starten alle Fahrten in München, dem Hauptsitz des Wünschewagens in Bayern. Dann geht es beispielsweise nach Altötting, weil eine 83-Jährige dort noch einmal einen Gottesdienst erleben will. Oder es geht zu einem Mittfünfziger nach Hause, weil er persönliche Sachen ins Hospiz mitnehmen will. Und dann kauft er noch fünf Tuben seiner Lieblingszahnpasta, sein bevorzugtes Toilettenpapier und zwei Stangen Zigaretten ein. „Dieser Mann schien noch etwas vor zu haben“, erinnert sich Schuschei an die etwas außergewöhnliche Tour und muss schmunzeln. Aber der Fahrgast ist König. Was er will, wird gemacht. Kostenlos. Schuschei kann sich noch gut erinnern, als Margarete Kerzinger nach dem Brombachsee-Ausflug noch einmal heim in ihr Haus kam. Nichte Karin hatte mit Freundinnen ihrer Tante ein Kaffeekränzchen organisiert. „Wie Frau Kerzinger an der Tafel thronte. Wie viel geplaudert und gekichert wurde – als wären es junge Mädchen, die sich da treffen.“
Erster Fahrgast im Wünschewagen wollte noch einmal nach Hause
Ist der Ausflug zu Ende, ist Natascha Schuschei von einer so tiefen Dankbarkeit erfüllt, erzählt sie, dass sie noch stärker spürt, was für ein tolles Leben sie doch hat. So geht es vielen im Team des Wünschewagens. Wie Schuschei bringen die meisten eine Sanitäterausbildung oder eine andere medizinische Vorbildung mit. So auch Heiko Kobelt. Tagsüber arbeitet er in einer Münchner Klinik. In seiner Freizeit fährt er den Wünschewagen. „Weil ich doch sehe, wie abgehängt die Leute durch ihre Erkrankung sind.“ Oder der Anwalt Stefan Hillebrand. „Für mich ist es ein wichtiger Ausgleich zu meiner Arbeit.“ Oder Ulrich Wagner. Tagsüber steht er als Geschäftsführer hinter einer Ladentheke. In seiner Freizeit ist der 58-jährige Familienvater im Kriseninterventionsdienst tätig oder fährt Wünschewagen. „Schön, dass Sie da waren“, sagen viele zu ihm. „Das sind Worte, die mit keinem Geld bezahlbar sind.“ Und es sind Momente, die einen erden. Bilder, die bleiben, erzählt Inge Weis.
Uschi Obermeier sieht noch heute ihren Lebensgefährten Klaus im Wünschewagen vor sich. Er hatte Lungenkrebs. Ein letztes Mal wollte er aus dem Hospiz heim. Er war der erste Fahrgast. Heute hilft Obermeier selbst mit. Koordiniert werden die Fahrten von Claudia Karner-Hillebrand. Die zierliche blonde Frau sitzt in einem winzigen Büro im Münchner ASB-Gebäude am Computer. Ein dreijähriges Kind soll am nächsten Morgen nach Hause gebracht werden.
Wie wichtig der Einsatz von Menschen für Sterbende ist, wird nicht nur beim Wünschewagen deutlich. Auch im Palliativzentrum am Klinikum Augsburg ist man auf Hilfe angewiesen. Dass am Lebensende noch Wünsche kommen, weiß Hans Jenuwein. Er ist Vorsitzender des Fördervereins „Menschen brauchen Menschen“.
Gemeinsam mit den leitenden Ärzten Dr. Irmtraud Hainsch-Müller und Dr. Christoph Aulmann werden dann Lösungen gesucht. Auch hier geht es oft um den Abschied von einem besonderen Ort, der im Leben wichtig war. Um Abschiede von einem Tier, das einen über lange Zeit begleitete, von Angehörigen, Freunden, zu denen lange kein Kontakt mehr bestand. Es sind „letzte Geschäfte“, die das Gehen erleichtern. Und die Ärzte und ihr Team versuchen alles, um diese Wünsche zu erfüllen, erzählen sie. „Eine Aufgabe, die uns mit großer Freude erfüllt, wenn es gelingt“, betont Hainsch-Müller. Sie sind gut vernetzt. Denn nicht immer ist die Palliativstation die Endstation. So etwa arbeiten sie auch mit der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung, kurz SAPV, zusammen. Das heißt, wenn möglich, können Patienten zu Hause sterben.
Ein Paar wollte vor seinem Tod noch heiraten
Aber oft ist das nicht mehr möglich. Dann wird im Klinikum alles versucht. „Wir hatten schon die verschiedensten Tiere auf der Station. Hunde, Katzen, Vögel, auch schon ein Chamäleon.“ Zwei Liebenden fehlte zum Glück noch ihr Trauschein: Ein 83-jähriger Patient wollte seine 78-jährige Lebensgefährtin heiraten. Die Frau lag zu dieser Zeit auf der Intensivstation. Also wurden zwei Standesbeamte organisiert. Die Braut wurde auf die Palliativstation transportiert – und es wurde geheiratet. Mit Champagner und Blumenstrauß, den die frisch Vermählte an die Zimmerdecke warf.
Es sind aber oft auch nur kleine Dinge: Da raucht der ältere Mann mit Lungenkarzinom seine letzte Zigarette auf der Terrasse der Station. Da streichelt die ältere Dame ein letztes Mal ihren geliebten Hund. Und da sieht eine 23-jährige Mutter mit Brustkrebs ein letztes Mal ihr drei Monate altes Baby und stirbt mit dem Kind im Arm.
Für die Ärzte ist entscheidend, dass die Patienten keine Schmerzen, keine Übelkeit, keine Ängste aushalten müssen. Geborgen bis zum letzten Atemzug ist ihr Ziel. Daher gehört ein Seelsorger zum Team. „Denn die Sinnfrage stellen sich am Ende fast alle“, sagt Hainsch-Müller. „Unabhängig von der Religion.“ Was passiert? Wo geht es hin?
Fragen, die nicht nur die Betroffenen umtreiben. Schmerzvoll ist das Loslassen auch für Angehörige. Besonders bei Kindern. Das wissen die Mitglieder des Vereins für krebs-, schwerst- und chronisch kranke Kinder und deren Familien mit dem schönen Namen „Glühwürmchen“. Walter Ernst ist zweiter Vorsitzender. Wie alle Vorstandsmitglieder musste auch er vor Jahren erfahren, was es heißt, wenn ein Kind schwer erkrankt. Sein Sohn hat den Kampf gegen den Krebs gewonnen.
Der 69-Jährige, der damals als Alleinerziehender mit drei Kindern zurechtkommen musste, nachdem seine Frau gestorben war, will anderen Eltern beistehen. Oft sind die Glühwürmchen mit letzten Wünschen von Kindern konfrontiert. Ernst hat viele Beispiele: Den Nachmittag im Musical. Den Besuch am Grab des an Krebs verstorbenen Vaters in Kroatien. Den ersten und letzten Blick aufs Meer.
„Viele Menschen sterben einsamer als es sein müsste“
Und es gibt den Achtjährigen, der sehnlichst Klavierspielen lernen will. Die Kinderkrebshilfe Königswinkel kauft dem Buben das Instrument. Als er etwa ein dreiviertel Jahr später spürt, dass ihn die Kräfte verlassen, verschenkt er seine Spielsachen. Auch den Fußball. „Und er hat seine Mutter gebeten, ihn nun gehen zu lassen“, erzählt Dr. Henriette Karg.
Zur seelischen Not gesellt sich oft noch die finanzielle. „Gerade junge Familien, die auf zwei Einkommen angewiesen sind, trifft es hart“, weiß Ernst. Denn in der Regel muss ein Elternteil die Arbeit vorübergehend aufgeben. Hinzu kommen meist enorme Fahrtkosten. „Ich habe Familien erlebt, die konnten sich, als ihr Kind gestorben ist, nicht einmal mehr einen Grabstein leisten“, erzählt Karg.
Was bedeutet Palliativ-Versorgung?
Was macht die Palliativmedizin? Im Vordergrund steht das Verhindern oder Verringern von Schmerzen und Depressionen.
Palliativmedizin wird dann eingesetzt, wenn bei einer weit fortgeschrittenen Krankheit im Gegensatz zu einer sogenannten kurativen Behandlung keine Chance mehr auf Heilung besteht und die Lebenserwartung begrenzt ist. Es geht um die Verbesserung der Lebensqualität und nicht um die Verlängerung der Lebenszeit.
Was ist der Unterschied zwischen ambulant und stationär? Immer mehr Krankenhäuser entdecken die Palliativ-Medizin als Geschäftsfeld für sich und betreiben eigene Stationen.
Beim Gegenmodell bilden Hausärzte und Palliativmediziner zusammen mit anderen Experten wie zum Beispiel in Hospizen ein ambulantes Netzwerk. Dabei können die Patienten entweder Zuhause oder im gewünschten Umfeld wie in einem Hospiz bis zum Tod betreut werden.
Die Experten der Bertelsmann-Stiftung fordern Behandlungen nach dem Grundsatz: «Ambulant vor stationär und allgemein vor spezialisiert».
Warum gibt es zum Thema Palliativ-Versorgung noch so viele Fragen und Unsicherheiten? Die Palliativ-Medizin ist eine junge Fachrichtung. Erst seit 2004 wird sie an immer mehr medizinischen Fakultäten ein verpflichtendes Lehr- und Prüfungsfach.
Einen Lehrplan gibt es seit 1997. Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin hat sich 1994 gegründet. Seit 2007 ist im Sozialgesetzbuch (SGB) ein gesetzlicher Anspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung verankert. (Carsten Linnhoff, dpa)
Auf ein anderes Problem macht Erich Rösch aufmerksam. Der Geschäftsführer des Bayerischen Hospiz- und Palliativverbandes befürchtet, dass durch Aktionen des Wünschewagens ein falsches Bild vom alltäglichen Sterben gezeichnet wird. Von so viel Aufmerksamkeit am Lebensende können nämlich seiner Einschätzung nach die meisten der jährlich rund 120.000 Sterbefälle in Bayern nur träumen. „Viele Menschen sterben einsamer als es sein müsste“, sagt er. Und das, obwohl der Wunsch, nicht allein zu sein, ebenso an oberster Stelle steht wie das Bedürfnis, ohne Schmerzen gehen zu können. Aber gerade in den Pflegeheimen müssen seiner Beobachtung nach die besten Kräfte hilflos mitansehen, wie Menschen in den schwersten Stunden allein sind, „weil einfach die Kapazitäten nicht ausreichen“. Und ja, „wir haben zu wenig Ehrenamtliche“. Menschen, die am Bett sitzen und die Hand halten. Einfach da sind. Denn es seien oft kleine Wünsche, die leicht erfüllt werden könnten. Doch immer mehr Menschen, sagt Rösch, stehen am Ende ihres Lebens allein da.
Margarete Kerzinger nicht. Sie hat einen großen Freundeskreis. Sie erzählt gerne, interessiert sich für vieles, besonders für Kunst. Vor allem hat sie ihre Nichte Karin, die sich kümmert. Dann will sie das Fotobüchlein zeigen, das Natascha Schuschei und Heiko Kobelt vom Wünschewagen ihr geschenkt haben. Sie blättert durch die Bilder. Sieht sich am Brombachsee, mit ihren Freundinnen beim Weintrinken – und beginnt zu strahlen.