Der Entführungsfall des Unternehmersohns Markus Würth vom Juni 2015 bleibt unaufgeklärt: Knapp ein dreiviertel Jahr nach der spektakulären Festnahme eines Tatverdächtigen auf Grundlage einer Tonbandaufnahme hat das Landgericht Gießen den 48-jährigen Nedzad A. am Dienstag freigesprochen. Damit folgten die Richter dem Antrag der Verteidigung, die für den Mann aus Serbien einen Freispruch gefordert hatte. Die Anklage hatte dreieinhalb Jahre Haft verlangt.
Offenbar war dem Gericht eine Verurteilung zu heikel, die sich wesentlich auf ein Sprachgutachten stützt. Die Sprechweise von Nedzad A. war darin mit Sprachaufzeichnungen von Anrufen des Würth-Erpressers verglichen worden. Darin war der Angeklagte schwer belastet, aber nicht eindeutig identifiziert worden. Menschen mit ähnlicher Herkunft und Biografie könnten genauso sprechen, hatten die Gutachter vor Gericht einräumen müssen.
Außerdem gehen nicht einmal die Ermittler davon aus, dass Nedzad A. die Entführung selbst und allein durchgeführt hat. Er soll eher eine Art Verbindungsmann einer Bande zu der Unternehmerfamilie Würth gewesen sein. Er soll die Modalitäten für die Geldübergabe an die Familie übermittelt haben, so der Vorwurf. Im Prozess hat Nedzad A. die Anschuldigungen zurückgewiesen. Von den Mittätern fehlt bis heute jede Spur.
Würth-Prozess: Eine Zeugin hatte die Stimme wiedererkannt
Der damals 50-jährige Markus Würth lebte in einer Hof- und Wohngemeinschaft im hessischen Schlitz. Von dort aus wurde er verschleppt, eine Geldübergabe an die Entführer scheiterte. Die Polizei fand den unverletzten Würth einen Tag später in einem Wald bei Würzburg, angekettet an einen Baum. Möglicherweise ließen die Entführer Würth am Leben, weil er seit seiner Kindheit nach einer misslungenen Impfung geistig behindert ist und nicht sprechen kann.
Die dramatische Fahndung nach den Entführern des Milliardärssohns Markus Würth
17. Juni 2015 Markus Würth, 50, wird aus einer Wohngemeinschaft für Behinderte und Nicht-Behinderte im osthessischen Schlitz entführt. Eine Übergabe der drei Millionen Euro Lösegeld scheitert in der Nacht.
18. Juni 2015 Der Sohn des Unternehmers und Milliardärs Reinhold Würth wird in einem Wald bei Würzburg an einen Baum gekettet, aber unversehrt gefunden. Zuvor haben die Entführer die Geodaten verraten.
13. Juli 2015 Eine Hotline von Polizei und Staatsanwaltschaft, unter der ein Mitschnitt eines Anrufs des Lösegeld-Erpressers zu hören ist, wird mehr als 10.000 Mal gewählt. Die Ermittler gehen davon aus, dass der Erpresser aus Ex-Jugoslawien stammt.
4. Mai 2017 Nach einer wiederholten Ausstrahlung des Falls bei „Aktenzeichen XY ... ungelöst“ gehen mehr als 200 Hinweise ein.
14. März 2018 Eine Spezialeinheit der Polizei nimmt in Offenbach einen 48-Jährigen fest. Der mutmaßliche Täter aus Serbien kommt in Untersuchungshaft. Er bestreitet die Tat. Der Tipp kam von einer Zeugin, die den Mann als Handwerker im Haus hatte.
11. September 2018 Der Prozess gegen den 48-Jährigen beginnt.
24. Oktober 2018 Laut Gutachtern ist die Stimme des Erpressers und die des Angeklagten „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ identisch.
27. November 2018 Das Landgericht Gießen spricht den Angeklagten frei.
Drei Jahre später nahmen die Ermittler einen Tatverdächtigen fest – den nun freigesprochenen Nedzad A. Ausschlaggebend für seine Festnahme war die Analyse einer Sprachaufnahme des Entführers. Dabei kam heraus, dass der Mann aus dem früheren Jugoslawien stammt und in Frankfurt oder Offenbach gelebt haben muss, weil er einen für diese Region typischen Klang in der Stimme hat.
Nach Öffentlichkeitsfahndungen, unter anderem im TV-Kriminalfallmagazin „Aktenzeichen XY ... ungelöst“, meldete sich Anfang des Jahres eine Zeugin aus dem Rhein-Main-Gebiet bei der Polizei, die die Stimme des Mannes wiedererkannt hatte. Nedzad A. wurde festgenommen und angeklagt.
"Eine Stimme ist kein Fingerabdruck"
Die Stimme des Entführers war das wichtigste Beweismittel der Ermittler. Als charakteristisch bezeichneten die Gutachter beispielsweise die für Ausländer schwierige Aussprache des „ü“ in manchen Worten sowie markante Redewendungen wie die Formulierung „ich trenne mich“ zum Ende eines Gesprächs. Diese Redewendung, die wohl im Kroatischen benutzt wird, hatte der Erpresser dreimal verwendet. Die Zeugin, die den entscheidenden Tipp auf einen Handwerker gab, der bei ihr renoviert hatte, erinnerte sich: Auch bei ihr soll er diese markante Redewendung benutzt haben.
Ob es möglich sei, „jede Person eindeutig anhand seiner Stimme zu identifizieren?“, fragte der Richter eine Sprachwissenschaftlerin. „Nein, eine Stimme ist ja kein Fingerabdruck und keine DNA-Spur“, sagte die Gutachterin.
Dem Gericht reichte dieses Hauptindiz letztlich nicht für eine Verurteilung aus. „Es bleiben Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten“, begründete der Vorsitzende Richter den Freispruch. Dafür wären weitere Indizien nötig gewesen, die sicher auf den Angeklagten als Erpresser deuteten, meinten die Richter.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Der Angeklagte verließ den Gerichtssaal als freier Mann. Er hat nun zudem einen Anspruch auf Haftentschädigung. (mit afp)