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Frankreich: Ein Jahr nach dem Brand: Notre-Dame steht – und steht still

Frankreich

Ein Jahr nach dem Brand: Notre-Dame steht – und steht still

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    Notre-Dame strahlt an diesem Apriltag 2020 im Licht der aufgehenden Sonne. Vor genau einem Jahr hatte eine Feuersbrunst den Himmel rot erleuchtet.
    Notre-Dame strahlt an diesem Apriltag 2020 im Licht der aufgehenden Sonne. Vor genau einem Jahr hatte eine Feuersbrunst den Himmel rot erleuchtet. Foto: Thomas Coex, afp via Getty Images

    Es ist ein Anblick, für den sonst Millionen Menschen um die halbe Welt reisen, und nun hat Cyril, der Sicherheitsmann, ihn fast für sich alleine. Die Zwillingstürme der Pariser Kathedrale Notre-Dame ragen in den hellblauen Himmel, den weiße Wolken durchziehen. Würden dahinter nicht Kräne hervorschauen und wüsste man nicht, dass der schmale Spitzturm fehlt – das Bauwerk sähe von vorne völlig unversehrt aus. So, als sei der Brand vor genau einem Jahr, am Abend des 15. April 2019, nie geschehen.

    Seit Corona-Ausgangssperre steht Baustelle Notre-Dame still

    Von der Seite allerdings lassen sich dessen schwerwiegende Folgen erkennen oder erahnen: Der hölzerne Dachstuhl mit seinen rund 1300 Eichenbalken war eingestürzt, das Bleidach geschmolzen, das Chorgestühl versengt. Der Blick geht auf Gerüste, die wie aus einer klaffenden Wunde in die Luft streben.

    Vor einem Jahr wurde Notre-Dame zur berühmtesten Baustelle Frankreichs. Diese steht still, seit Mitte März im Land die Ausgangssperre begann, um das Coronavirus einzudämmen. Heute sind der Vorplatz und die umliegenden Straßen menschenleer, die Souvenirshops und Cafés geschlossen. Selbst an Ostern blieb es hier so ruhig wie wohl noch nie in der mehr als 850-jährigen Geschichte der gotischen Kathedrale.

    Menschen wollen sich ins Innere von Notre-Dame stehlen

    Nur Cyril in seiner schwarzen Arbeitskluft und mit der orangefarbenen Armbinde „Sécurité“ – „Sicherheit“ – dreht seine Runden innerhalb des Geländes, das durch eine Schutzmauer in milchigem Weiß abgesperrt ist. Mit ein paar Kollegen wechselt er sich ab, um die Überwachung rund um die Uhr sicherzustellen. „Die Stunden vergehen langsam, denn es passiert sehr wenig“, sagt der junge Mann und blinzelt in die grelle Sonne. „Aber es ist trotzdem wichtig, dass wir da sind.“ Immer wieder versuchten Menschen, ins Innere der Kathedrale zu gelangen, berichtet er. Gerade während der Ausgangssperre glaubten sie sich unbeobachtet. In der vergangenen Woche zum Beispiel wurden nachts zwei angetrunkene Männer bei dem Versuch ertappt, Steine zu stehlen. Sie erwartet nun ein Prozess.

    Die Arbeitstage des Sicherheitsmanns Cyril sind zäh in diesen Tagen.
    Die Arbeitstage des Sicherheitsmanns Cyril sind zäh in diesen Tagen. Foto: Birgit Holzer

    Doch in den Medien war dies nur eine kleine Meldung – die Aufmerksamkeit liegt ganz auf der Entwicklung der Corona-Pandemie. Rund 15.000 Infizierte sind in Frankreich gestorben. Erst allmählich beginnt sich die Lage in den Krankenhäusern zu entspannen – vor allem in den besonders betroffenen Gebieten, der Hauptstadtregion und der Region Grand Est mit dem Elsass und Lothringen. Die Zahl der Todesfälle pro Tag und der Patienten, die ein Beatmungsgerät brauchen, sinkt seit Donnerstag.

    Jahrestag des Brands von Notre-Dame von Corona verdrängt

    Vor diesem Hintergrund wird dem Jahrestag des Brands von Notre-Dame wenig Beachtung zuteil, sosehr das Feuerdrama die Menschen damals auch erschüttert hat. Unabhängig von ihrer Religion oder Nationalität bangten sie in jener Nacht vor Ort oder an den Fernseh- und Computerbildschirmen um die Kathedrale. Stundenlang bleib unklar, ob sie einstürzen würde.

    Doch sie hielt stand. „Sie schwankt, aber sie geht nicht unter“: Der Wahlspruch der Stadt Paris schien nun auch auf eines ihrer bedeutendsten Wahrzeichen zuzutreffen. Es steht auf einer der beiden Seine-Inseln, auf denen sich erste Siedler bereits vor mehreren Jahrtausenden niederließen. Bis heute befindet sich hier das Zentrum von Paris: Vom Vorplatz Notre-Dames aus werden die Distanzen zu allen anderen Orten im Land gemessen. Heute herrscht dieselbe Stille wie überall in der französischen Metropole, die ihren Charme eigentlich aus dem Leben in den Straßen, der Bewegung, den Cafés und Boutiquen zieht. In Zeiten von Covid-19 zeigt sie ein neues, leeres, befremdliches Gesicht. Hinter den Vitrinen der Restaurants stehen die Stühle sorgsam aufgestapelt. Die Werbungen für Kinofilme oder Theaterstücke an den Litfaßsäulen erscheinen wie aus einer anderen Zeit. Und das sind sie ja auch.

    14 Millionen Besucher kommen jährlich zu Notre-Dame

    So wie der Trubel gehörte die prächtige Kathedrale stets wie selbstverständlich zum Stadtbild. Bis zu 14 Millionen Besucher zählte sie pro Jahr. Unverwüstlich, unverwundbar wirkte sie. Victor Hugo, der Nationalschriftsteller, hatte das Monument in seinem Klassiker „Der Glöckner von Notre-Dame“ besonders gewürdigt. Der Roman wurde nach dem Brand wieder zum Bestseller. Das historische Bauwerk so angegriffen zu sehen, sagte Präsident Emmanuel Macron in einer Fernsehansprache nach dem Feuer, habe gezeigt, dass es immer neue Bewährungsproben zu bestehen gelte: „Der Brand von Notre-Dame erinnert uns daran, dass die Geschichte nicht endet.“ Aber die Franzosen, so fuhr der Staatschef fort, bewiesen in Krisenzeiten stets ihre „Fähigkeit, uns zu mobilisieren, uns zu vereinigen, um zu siegen“. Eine ähnlich kriegerische Sprache benutzte er nun erneut, als er den „Krieg“ gegen einen „unsichtbaren Feind“, das Coronavirus, ausrief.

    Macron versprach in seiner Rede, Notre-Dame in nur fünf Jahren wieder aufzubauen, und zwar „noch schöner als zuvor“. Im Juli beschloss das Parlament ein Gesetz, das Ausnahmen beim Denkmal- und Umweltschutz sowie bei öffentlichen Ausschreibungen vorsah, um das Vorgehen zu beschleunigen. Schon da erhoben sich kritische Stimmen angesichts dieser Eile und des vom Präsidenten vorgegebenen ambitionierten Zeitplans. Heute erscheint dieser weniger denn je einhaltbar.

    Die Phase der Stabilisierung des Gebäudes ist längst nicht abgeschlossen. Bis zum Sommer sollte ein Gerüst, das vor dem Brand für Renovierungen aufgestellt worden war, abgebaut werden – eine heikle Aufgabe, da die 10.000 Rohre in der Feuerglut teils geschmolzen sind. Kann die Arbeit trotz der Ausgangssperre, die noch bis 11. Mai geht, angegangen werden?

    Die Baustelle ist wegen Corona gestoppt

    „Ich habe die Baustelle gestoppt, weil es nicht infrage kam, die Handwerksgesellen auch nur dem geringsten Risiko auszusetzen“, sagt Jean-Louis Georgelin, früherer Generalstabschef der französischen Streitkräfte, den die Regierung als Generalbeauftragten für den Wiederaufbau von Notre-Dame eingesetzt hat. „Aber ich dachte auch sofort über die Bedingungen nach, unter denen wir die Arbeiten teilweise wieder aufnehmen können.“ In kleinen Teams und mit ausreichend Abstand sei dies denkbar. Derzeit kontrollieren Industriekletterer das Bauwerk einmal pro Woche. Im Einsatz ist zudem ein System aus Lasern und rund 100 elektronischen Sensoren, um mögliche Bewegungen im Mauerwerk zu messen. Demnach ist die Struktur stabil.

    Auch hinsichtlich der Finanzierung gebe es trotz der Coronavirus-Krise „keinen Grund zur Beunruhigung“, sagt Georgelins Stellvertreter, Philippe Jost. Alle Spender hätten versichert, ihre Zusagen einzuhalten. Sechs Monate nach dem Brand beliefen sich deren Versprechen laut Kulturministerium auf fast eine Milliarde Euro. Das Geld geht nach und nach ein, abhängig vom Vorankommen der Baustelle.

    Über Jahre dürfte sich auch die Untersuchung über die Ursache des Brands ziehen. Laut französischen Medien verfolgen die Ermittler drei Hypothesen: Das Feuer entstand demnach entweder durch eine nicht ganz ausgedrückte Zigarette von einem der Arbeiter, die Renovierungsarbeiten am Dach durchführten, durch einen Kurzschluss im elektronischen Glockensystem oder einen am Aufzug zum Gerüst. „Die Wahrheit ist, dass es bis heute niemand weiß“, wird eine polizeiliche Quelle zitiert.

    In einem anderen Bereich hingegen schreiten die Erkenntnisse voran: Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen haben sich vernetzt, um ihre Ergebnisse aus den Untersuchungen der herabgestürzten Kirchen-Elemente zu teilen: So lernen sie mehr und mehr über die Zeit des Baus. Bis Mitte März holten Roboter die Bauelemente aus der Kathedrale und brachten sie in weiße Zelte auf dem Vorplatz, wo sie klassifiziert wurden. Chefarchitekt Philippe Villeneuve hat angekündigt, so viele Originalelemente wie möglich zu verwenden, und plädierte für einen identischen Wiederaufbau des Monuments mitsamt dem zerstörten neogotischen Vierungsturm, der vom Architekten Eugène Viollet-le-Duc erst im 19. Jahrhundert angefügt worden war. Präsident Macron hatte hingegen seine Sympathie für einen „zeitgenössischen Touch“ kundgetan. Die Gestaltung gehört weiter zu den ungeklärten Fragen – so wie jene, wann Gläubige wieder zu Gottesdiensten kommen können.

    Pfarrer halten Gottesdienst mit Schutzhelmen

    Trotz der aktuellen Ausnahmesituation bestand der Pariser Erzbischof Michel Aupetit auf einer Karfreitagsmesse, für die er eine Sondererlaubnis erhielt und an der ganze sieben Leute teilnehmen durften – alle mit weißen Schutzhelmen auf den Köpfen. Eine Fernsehkamera übertrug die Zeremonie in ganz Frankreich.

    Patrick Chauvet, Pfarrer der Kathedrale, hält die Dornenkrone, die Jesus getragen haben soll. Der Helm schützt vor herabfallenden Teilen, der Mundschutz vor Corona.
    Patrick Chauvet, Pfarrer der Kathedrale, hält die Dornenkrone, die Jesus getragen haben soll. Der Helm schützt vor herabfallenden Teilen, der Mundschutz vor Corona. Foto: Ludovic Marin, dpa

    Vor einem Jahr barg ein Feuerwehrmann die Dornenkrone Jesu Christi aus der Asche – sie ist eine der wertvollsten Reliquien in Notre-Dame. Beim Gottesdienst am Karfreitag kam ihr eine zentrale Rolle zu: Aupetit nannte sie ein Symbol dafür, „dass das Leben stärker ist als der Tod“ – und die Feier in der halb eingestürzten Kathedrale zeige, „dass das Leben immer noch da ist“. Damit verkünde die Dornenkrone dem Land eine positive Botschaft: „Wir werden das überstehen.“ Die Hoffnung wird in diesen Tagen besonders gebraucht.

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