Elfriede Meisenborn sitzt in der Bäckerei direkt gegenüber des Landgerichts, trinkt einen Milchkaffee und beobachtet das Gedränge der Journalisten, die ins Justizgebäude von Detmold wollen, einer Stadt in Nordrhein-Westfalen mit etwa 75.000 Einwohnern. Nebenan diskutieren Polizeibeamte mit den Fahrern der Fernseh-Übertragungswagen, weil die Fahrzeuge Rad- und Gehwege versperren. „Es ist gut, dass so viele Medien hier sind“, sagt Elfriede Meisenborn. „Die ganze Republik soll erfahren, dass Kinderschänder vor Gericht landen. Sie müssen über den Horror berichten.“
Die Rentnerin wird sich den Gang in den Besucherbereich des Gerichtssaals ersparen. „Ich werde so schnell wütend und die Plätze sind bestimmt auch schon vergeben“, sagt die 79-Jährige. Recht hat sie. Kein Platz im Saal 165 ist mehr frei, als die Vorsitzende Richterin Anke Grudda pünktlich um neun die Verhandlung eröffnet.
Die Angeklagten sollen mindestens 462 Mal Kinder missbraucht haben
Andreas V., 56, und Mario S., 34, haben sich seit sieben Monaten nicht gesehen. Trotzdem schenken sie sich nun keinen Blick. Dabei gelten die beiden arbeitslosen Männer als befreundet. Eine Freundschaft, die sie – sofern sich die Vorwürfe bestätigen – genutzt haben, um auf dem Campingplatz im nahen Lügde mindestens 34 Kinder im Alter von vier bis 13 Jahren zu missbrauchen. Die Anklage spricht von insgesamt 462 Taten. Und die Rede ist teilweise von schwerer sexueller Gewalt.
Wenn dieser Prozessauftakt, bei dem so viel Abscheuliches verlesen wird, einen guten Moment hat, dann diesen: Zur Überraschung und Erleichterung vieler Prozessbeobachter legen beide Hauptangeklagte Geständnisse ab. „Mein Mandant gibt alle Fälle zu, wie angeklagt. Er wird aber keine Angaben zu Personen machen, keine Fragen beantworten und sich psychologisch begutachten lassen“, sagt Rechtsanwalt Johannes Salmen, der Andreas V. verteidigt.
Und auch Rechtsanwalt Jürgen Bogner verliest für seinen Mandanten Mario S. ein umfassendes Geständnis. Der Mann aus Steinheim in Westfalen ist der einzige Angeklagte, der beim Betreten des Saals sein Gesicht gezeigt hat. Andreas V. und der dritte Angeklagte Heiko V. haben ihre Gesichter hinter Aktenordnern versteckt. Mario S. ist auch der Einzige, der sich selbst zu seinen Taten äußert. „Ich schäme mich“, sagt er. „Wenn ich es rückgängig machen könnte, würde ich das tun. Aber ich kann’s nicht.“ Er wisse nicht, wie er sich zu diesen furchtbaren Taten habe hinreißen lassen können, das sei ihm erst in der U-Haft deutlich geworden. Auch er wolle eine Therapie machen.
Vom Verdacht bis zum Prozess: Chronologie im Fall Lügde
28. Januar 2002: Unter diesem Datum steht in einer Liste der Polizei Lippe zu Sexualdelikten ein Hinweis auf sexuellen Missbrauch eines achtjährigen Mädchens durch den heutigen Hauptbeschuldigten.
2008: Der heutige Hauptverdächtige soll ein achtjähriges Mädchen auf dem Campingplatz missbraucht haben, wie die Ermittlungen ergaben.
August 2016: Hinweise eines Vaters an Polizei, Jugendamt und Kinderschutzbund. Die Polizei schaltet das Jugendamt ein, ermittelt aber nicht. Auch gibt es keinen Hinweis an die Staatsanwaltschaft.
November 2016: Hinweis aus dem Jobcenter Blomberg (NRW), dass Äußerungen des heutigen Hauptverdächtigen auf sexuellen Missbrauch hindeuten könnten. Die Polizei informiert das Jugendamt, ermittelt aber nicht.
Oktober 2018: Hinweis auf sexuellen Missbrauch auf dem Campingplatz Lügde bei der Polizeibehörde im niedersächsischen Bad Pyrmont. Aus dem Landkreis Hameln-Pyrmont stammt das Pflegekind. Die Polizei befragt es.
Dezember 2018: Festnahme des Hauptverdächtigen. Der heute 56-jährige Arbeitslose aus Lügde sitzt seitdem in Untersuchungshaft.
Januar 2019: Weitere Festnahmen. Ein Mann aus Steinheim bei Höxter soll am Missbrauch direkt beteiligt gewesen sein. Im Wechsel mit dem Hauptbeschuldigten soll er gefilmt und Kinder missbraucht haben. Ein Mann aus Stade in Niedersachsen soll Material bestellt und per Webcam-Übertragung Missbrauch beobachtet haben.
30. Januar 2019: Polizei Lippe und Staatsanwaltschaft gehen an die Öffentlichkeit und berichten in einer Pressekonferenz über den Missbrauch von zahlreichen Kindern im Alter zwischen vier und 13 Jahren.
31. Januar 2019: Die Staatsanwaltschaft Detmold leitet Strafverfahren gegen zwei Polizisten aus Lippe ein. Sie sollen Missbrauchshinweise zwar an Jugendämter weitergegeben, aber nicht ermittelt haben. Das Polizeipräsidium Bielefeld übernimmt wegen der Dimension des Falls auf Anweisung des NRW-Innenministeriums die weiteren Ermittlungen.
Februar 2019: Die Staatsanwaltschaft ermittelt auch gegen Mitarbeiter der Jugendämtern in Lippe und Hameln und will klären, ob Hinweise missachtet wurden. Der Landkreis Hameln-Pyrmont stellt einen Mitarbeiter des Jugendamtes frei, der Akten manipuliert haben soll. Das Jugendamt des Kreises hatte den Hauptverdächtigen, der auf dem Campingplatz Lügde wohnte, als Pflegevater für das Mädchen eingesetzt.
22. Februar 2019: NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) informiert die Öffentlichkeit über den Verlust eines Teils des Beweismaterials bei der Kreispolizei Lippe. Aus einem Raum des Kriminalkommissariats sind ein Alukoffer und eine Hülle mit 155 Datenträgern verschwunden. Ein Sonderermittler untersucht den Verlust. Zwei leitende Polizeibeamte des Kreises Lippe müssen in der Folgezeit ihren Platz räumen.
Ende Februar bis Anfang März 2019: Erneut Durchsuchungen. Auf dem Campingplatz in Lüdge findet ein speziell ausgebildeter Suchhund weitere Datenträger. Auch zwei Wohnungen werden durchsucht.
19. März 2019: Der Landrat des Kreises Hameln-Pyrmont räumt massive Fehler des Jugendamtes Hameln im Jahr 2016 ein. Hinweise auf Pädophilie seien nur vermerkt worden und Konsequenzen ausgeblieben.
9. April 2019: Der Besitzer des Campingplatzes lässt die Parzelle des Hauptbeschuldigten mit schwerem Gerät räumen. Dabei werden in der stark verschachtelten Behausung erneut Datenträger gefunden. Die Polizei begleitet den Abriss am freigegebenen Tatort nicht.
19. April 2019: Laut NRW-Innenministerium haben die Ermittler fünf Millionen Megabyte Daten gesichert. Dabei seien 30 000 Fotos und knapp 11 000 Filme mit Kinder- und Jugendpornografie gefunden worden.
17. Mai 2019: Zwei Anklagen sind zugestellt. Dem Hauptverdächtigen werden 293 Fälle vorgeworfen. Darunter sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen, schwerer sexueller Missbrauch von Kindern sowie der Besitz von Kinderpornografie. Aufgeführt sind 22 minderjährige Opfer. Beim mutmaßlichen Komplizen aus Stade geht es um vier Fälle, bei denen er an Webcam-Übertragungen des Dauercampers teilgenommen haben soll.
29. Mai 2019: Dritte Anklage. Die Staatsanwaltschaft wirft dem zweiten Hauptverdächtigen aus Steinheim in 162 Fällen über 20 Jahre sexuellen und schweren sexuellen Missbrauch von 17 Kindern vor.
29. Mai 2019: Die Anklage gegen den Hauptverdächtigen aus Lügde wird um fünf auf 298 Fälle erweitert. Ein weiteres Opfer wurde ermittelt.
17. Juni 2019: Das Amtsgericht Detmold bestätigt eine vierte Anklage rund um den Missbrauchsfall Lügde. Der Angeschuldigte sei zur Tatzeit noch Jugendlicher gewesen. Deshalb werden keine Details genannt.
19. Juni 2019: Knapp eine Woche vor Start des Prozesses am 27. Juni hat das Landgericht 27 Opfer als Nebenkläger zugelassen.
Fall Lügde: Der Vater eines Opfers verlässt den Gerichtssaal
Zuvor haben die Staatsanwältinnen Jacqueline Kleine-Flaßbeck und Helena Werpup unter Ausschluss der Öffentlichkeit gut eine Stunde lang abwechselnd vorgetragen, warum die beiden Hauptangeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 462 Fällen angeklagt sind. Bei zehn Mädchen wirft die Staatsanwaltschaft Andreas V. vor, mehrfach „Beischlaf“ vorgenommen zu haben und Handlungen, die „mit einem Eindringen in den Körper verbunden gewesen sein sollen“ – also Vergewaltigung. Zudem wurden bei beiden tausende Bild- und Videodateien gefunden, die sexuelle Übergriffe auf Minderjährige zeigen.
Kopfschüttelnd verlässt ein 32-jähriger Mann während der Anklageverlesung den Gerichtssaal. „Ich muss erst einmal kurz durchatmen“, sagt der Familienvater, dessen Tochter zu den mutmaßlichen Opfern von Andreas V. gehört. Er setzt sich draußen vor dem Gerichtssaal auf eine Bank und vergräbt sein Gesicht in beide Hände.
Gemeinsam mit seiner ehemaligen Lebensgefährtin ist er nach Detmold gekommen, um dem Mann, der das Leben seiner „kleinen Prinzessin“ zerstört hat, in die Augen zu blicken. „Ich dachte, ich halte die Details aus, doch ich schaffe es einfach nicht“, sagt er. Die Opfer seien in jeder denkbaren Form vergewaltigt, zu abartigen Sexspielen – auch untereinander – gezwungen und mit Drohungen zum Schweigen gebracht worden, fügt er hinzu und blickt zur Decke.
Wie groß kann Grausamkeit sein? Wie klein Mitgefühl? Gab es Vorboten für eine derartige Katastrophe? Wer hat welchen Tatbeitrag geleistet? Antworten auf diese Fragen muss nun die Jugendschutzkammer geben. Gleich zu Beginn hat Richterin Anke Grudda klargestellt, wer Herrin des Verfahrens ist. Die angeklagten Taten seien „zweifelsohne abscheulich“, sagt sie. Das stehe außer Frage. „Die Anschuldigungen lassen niemanden unberührt.“ Erschreckend sei die hohe Zahl mutmaßlicher Opfer sowie der lange Zeitraum der Vorwürfe, der mehr als 20 Jahre zurückreicht.
Ein dritter Angeklagter soll per Webcam bei den Taten zugesehen haben
Der dritte Mann, Heiko V., 49, aus Stade in Niedersachsen ist angeklagt, weil er an einigen Webcam-Übertragungen teilgenommen haben soll. In seiner Wohnung wurden zehntausende Kinderpornos gefunden. Er beteuert, dass er nur zugesehen, aber nie selbst Kinder angefasst habe. Sein Verteidiger Jann Popkes verliest ein schriftliches Geständnis. Darin soll Heiko V. alle Vorwürfe ausnahmslos eingeräumt haben, sagt Popkes hinterher.
Auch da bleibt die Öffentlichkeit ausgeschlossen, um die Intimsphäre von Heiko V. und auch die Privatsphäre der Opfer zu schützen. Noch an diesem Freitag soll eine Absprache zwischen Sachverständigen, Nebenklage und Gericht stattfinden. „Ich gehe davon aus, dass am dritten Verhandlungstag ein Urteil gegen meinen Mandaten gesprochen wird“, sagt Popkes. Damit sei die angedachte Abtrennung des Verfahrens möglicherweise vom Tisch.
Unter den Zuschauern sitzt auch eine Krankenschwester. Sie hat eigens für den Prozess ihre Schicht verschoben. Sie erzählt, sie kenne Andreas V. seit knapp 30 Jahren. „Er war ein intelligenter und empathischer Mensch, der alle mit Charme überzeugen konnte“, sagt die 52-Jährige. Sie könne immer noch nicht glauben, dass er so vielen Kindern und Familien das Leben versaut habe. „Alle haben oder hätten ihm seine Kinder anvertraut – ich auch“, sagt Schröder. Nachdem der Missbrauch öffentlich geworden sei, hätten alle Eltern, die in den vergangenen 30 Jahren ihre Kinder bei „Addi“ in Obhut gegeben hätten, sofort zum Handy gegriffen und nachgefragt, ob ihr Nachwuchs auch Opfer geworden sei.
Dazu muss man wissen: Andreas V. hat als Dauercamper in einem Wohnwagen gelebt – oder zuletzt gehaust, wie manche sagen. Die meiste Zeit über soll er sich auf dem Campingplatz rührend um Kinder gekümmert, mit ihnen getollt und ihnen Spielsachen geschenkt haben. Teilweise sei er mit ihnen Shoppen gewesen. Dass er sich an so vielen von ihnen vergangen haben soll, davon will niemand auf dem Areal etwas mitbekommen haben.
Doch genau dies ist das Problem. Der Fall Lüdge hat ja nicht nur deshalb eine so schockierende Dimension, weil die Zahl der Opfer und der Vergehen so hoch ist. Sondern auch deshalb, weil sich der jahrelange Missbrauch auf einem öffentlich zugänglichen Campingplatz ereignet hat und trotzdem quälend lange unentdeckt blieb. Oder auch, weil es schon im Jahr 2002 einen Verdacht gegen Andreas V. auf sexuellen Missbrauch gab. Doch dem Hinweis wurde nicht nachgegangen.
Und da ist noch viel mehr. Gegenstand weiterer Ermittlungen ist zudem die Frage nach dem Versagen von Behörden. Angefangen beim Jugendamt. Obwohl die Behörde von den Vorwürfen gegen Andreas V. wusste, zog im Frühjahr 2016 eine damals fünfjährige Pflegetochter für rund zweieinhalb Jahre in die heruntergekommene Campingunterkunft – wohl auf Wunsch der überforderten leiblichen Mutter. Heute glaubt man zu wissen: In den zweieinhalb Jahren wurde das Mädchen dutzendfach sexuell misshandelt. Es musste als Lockvogel herhalten und andere Kinder mitbringen. Zur Belohnung gab es Ausflüge und Geschenke. Und es gab Drohungen, ja nichts zu verraten. Heute ist das Kind acht.
Hinzu kommen weitere unglaubliche Entwicklungen. Im Jugendamt sollen Akten manipuliert worden sein. Bei den späteren polizeilichen Ermittlungen passieren mehrere Pannen. Plötzlich sind Beweismittel verschwunden. Leitende Polizeibeamte werden von dem Fall abgezogen. Der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul, gerät unter Druck. Zwei Tage vor Prozessbeginn beschließt der Landtag, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Er soll Fehlverhalten in allen mit den Vorgängen befassten Behörden aufklären.
Im Gerichtssaal in Detmold haben an diesem Donnerstag neben den Verteidigern der Angeklagten 18 weitere Anwälte Platz genommen. Sie vertreten die rund 30 Nebenkläger. 53 Zeugen sind geladen. Der Prozess ist bislang auf zehn Verhandlungstage bis Ende August angesetzt.
„Nach diesen Geständnissen bleibt vielen Opfern eine Aussage erspart“, sagt Rechtsanwalt Salmen. Andreas V. habe sich überzeugen lassen. Auf die Frage, warum er sich nicht entschuldigt habe, antwortet Salmen: „Solche Taten sind nicht zu entschuldigen.“
Der 32-Jährige, dessen Tochter zu den Opfern gehört, sagt dazu: „Es ist gut, dass die Kinder nicht aussagen müssen, aber eine Entschuldigung will ich nicht von diesem Monster, der viele Leben zerstört hat.“ Dann greift er nach der Hand seiner Ex-Freundin.
Prozess um Missbrauch von Lügde: Am Freitag sollen Kinder aussagen
An diesem Freitag sollen die ersten Kinder aussagen. Allerdings nicht zu den Taten. Die Kammer wolle sich ein Bild von der Verfassung der Kinder machen, erklärt Verteidiger Jürgen Bogner. Einwände von den Opferanwälten gibt es nicht. „Ein Missbrauchsprozess, in dem es um so viele Kinder geht, aber keines zu Wort kommt, wäre auch komisch“, sagt Rechtsanwalt Roman von Alvensleben, der ein Opfer vertritt. Das Wichtigste sei, dass die Kinder keine detaillierten Aussagen über das „unvorstellbare Grauen“ machen müssten, das ihnen widerfahren ist. Die Teilnahme sei freiwillig, kein Kind müsse zum Termin erscheinen.
Den Hauptangeklagten drohen sehr lange Haftstrafen, Opferanwälte haben schon nach Sicherungsverwahrung gerufen. „Heute sind die Weichen für einen kurzen Prozess gelegt worden“, sagt Rechtsanwalt Christian Thüner. Am Ende des Tages sei „fast so etwas wie Erleichterung auf den Fluren des Landgerichts zu spüren gewesen“. Bis zum Urteil allerdings bleibe es noch ein langer Weg. (mit anf, dpa)
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